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Ausgabe:

März/2015

Spalte:

191–194

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Taylor, Joan E.

Titel/Untertitel:

The Essenes, the Scrolls and the Dead Sea

Verlag:

Oxford u. a.: Oxford University Press 2012. 418 S. m. 53 Abb. Geb. £ 40,00. ISBN 978-0-19-955448-5.

Rezensent:

Jürgen K. Zangenberg

Auch wenn die legendären, hitzigen Debatten über Qumran und die Essener in überfüllten Konferenzsälen nunmehr der Vergangenheit angehören, vollzieht sich gegenwärtig nichts weniger als ein Paradigmenwechsel in der Qumranforschung. Zwar sind die Funde und Befunde der Siedlung noch immer nicht zufriedenstellend publiziert, doch nehmen Landschaft und materielle Kultur Qumrans nun eine zunehmend eigenständige Rolle in der Debatte ein. Auch die nichttextlichen Quellen werden als eigenständige Stimmen wahrgenommen, die ihre eigene Geschichte zu erzählen haben. In den letzten Jahren sind schlichtweg zu viele neue Daten bekannt geworden, als dass man das alte Bild Qumrans als abgeschiedene Sektierersiedlung in der Wüste weiterhin noch unverändert propagieren könnte.
Einen wesentlichen Anteil an dieser neuen Sicht haben Arbeiten der britischen Historikerin und Judaistin Joan E. Taylor (Professor of Christian Origins and Second Temple Judaism am King’s College in London). Zahlreiche ihrer Gedanken zu den Essenern, der Siedlung von Qumran und der Region um das Tote Meer hat T. nun in der hier zur Rezension vorliegenden Monographie gebündelt, pointiert, ergänzt und in außerordentlich inspirierender Weise zu einer breit angelegten, innovativen Sicht der Essener, der Siedlung von Qumran und ihrer regionalen Einbettung ausgeführt.
T. teilt ihr Buch in zwei Hauptteile. »The Essenes in Ancient Literature« entfaltet in acht kenntnisreichen Argumentationsgängen, von denen sich – nach einer ausführlichen Diskussion der Forschungsgeschichte »›A Peculiar Problem‹: A Short History of Scholarship«, 3–21) – die sechs folgenden Kapitel der Frage zuwenden, wie die »klassischen« antiken Autoren die Essener »rhetorisch konstruierten« (»Philo of Alexandria«, 22–48; »Josephus«, 49–108; »The Herodians in the Gospel of Mark«, 109–130; »Pliny«, 131–140; »Dio Chrysostomos, Synesius, and Julius Solinus«, 141–166; und abschließend »Christian and Jewish Writings from the Second to Fifth Centuries«, 167–194). Eine Zusammenfassung wertet die Einzelexegesen noch einmal aus (»Conclusions: The Essential Essenes«, 195–201). T. weist in ihrer Forschungsgeschichte darauf hin, dass die konzeptionelle »Marginalisierung« der Essener als besonderer »Ge­genentwurf« zu den angeblich auf »Werkgerechtigkeit« gerichteten Pharisäern nicht nur eine lange, christlich motivierte Vorgeschichte hat, sondern auch ihre Nachgeschichte fand in der landläufigen Deutung der Essener als »isolationist ›monastic‹ order […] detached from normative Judaism« (11) und ihrer geographischen und theologischen Distanzierung von Jerusalem. Alles in allem bleibt auch für T. die Essenerhypothese »the most convincing soluti on« zur Deutung des Verhältnisses von Siedlung, Texten und Essenern (15; s. auch 342: »The scrolls are not at all to be detached from the site of Qumran«). T. plädiert dennoch mit Nachdruck dafür, auf vorgefertigte, »antiquated conceptualizations« jeder Art (ebd.) zu verzichten und stattdessen die Essener »within a holistic understanding of Second Temple Judaism« neu aus den Quellen zu erheben. T. hofft zu Recht, dass aus der erneuten Exegese der zwar allesamt rhetorisch geprägten, dennoch als Quellen für potentielle »historical actuality« unentbehrlichen Texte nicht zuletzt auch »a better model of Second Temple Judaism as a whole« entstehen kann (17). T. plädiert für eine »more expansive understanding of ancient Essenism« (21). Eine auch nur annähernd angemessene Diskussion der zum Teil sehr detaillierten Exegesen einzelner Textgruppen ist hier leider nicht möglich, in ihrer Gesamtheit bieten sie jedoch nichts weniger als eine »major revision of the basic conceptualization of the Essenes […] in removing them from the perimeters and putting them in the center […] of a far more robustly variegated« Second Temple Judaism (200 f., in Anschluss an Michael Stone, Ed P. Sanders). T. muss dabei freilich gerade die am meisten gebrauchten Zeugen für die traditionelle Essenersicht zum Teil gewaltig gegen den Strich bürsten (vor allem Philo und Josephus), um hinter Rhetorik und Karikatur blicken zu können. Was sich dann aber ergibt, ist in der Tat ein faszinierender Blick nicht nur auf die Essener, sondern auf das Judentum des Zweiten Tempels insgesamt. Nach T. waren die »historischen Essener« alles andere als eine marginalisierte Gruppe apokalyptischer Sonderlinge, sondern vielmehr eine in allen Bereichen der damaligen jüdischen Gesellschaft vertretene, hochrespektierte, in den biblischen und priesterlichen Traditionen verwurzelte Bewegung, deren Haupttätigkeit darin bestand, an der Gesetzesauslegung mitzuwirken, das Volk zu lehren und die Ernsthaftigkeit eines religiösen Lebens in die persönliche Praxis bis hin zu Heilung und Körperpflege umzusetzen, einschließlich einer Art Zölibat (195–201). Die Essener lehnten die Hasmonäer ab und ge­nossen die Sympathien des Herodes, nicht zuletzt wegen der günstigen Orakel ihres Anführers Menachem (Mk 3,6 nennt sie daher auch »Herodianer«); auch bestand die Gruppe noch bis ins 2. Jh.
Aber was haben die von T. rekonstruierten Essener mit den Autoren der Schriftrollen zu tun? T.s Studie holt im zweiten Hauptteil »Dead Sea, the Essenes, and the Scrolls« hierzu weiter aus, will die Schriftrollen bewusst als materielle Artefakte begreifen und im Zusammenhang der Region am Toten Meer kontextualisieren. T.s Methode ist deutlich: »[I]t is the presupposition of this examination that literature, understood correctly, is crucial to a proper understanding of the archaeological material we have around the Dead Sea. However, archaeology itself can illuminate our texts, and in the case of understanding the relationship be-tween the Scrolls and the site of Qumran it is only archaeology that tells us the real relationship, just as it was only archaeology that provided evidence of Jewish settlement in the Southern Dead Sea after the First Revolt. Method does not, in the end, require an either-or approach, but method is invariably dictated by the types of questions we ask« (343). In »The History of the Dead Sea« (205–243) beschreibt T. zunächst die Geschichte der Region, ihrer hochspezialisierten Bevölkerung am Ost- wie auch am Westufer bis zum »genocide« der jüdischen Bewohner im Jahre 135 (243) anhand der antiken Quellen und umreißt so den geographischen, ökonomischen und kulturellen Kontext der »Essenes beside the Dead Sea: Qumran«, denen sich das folgende Kapitel zuwendet (244–271).
T. erkennt unumwunden an, dass die Region am Toten Meer trotz ihrer Unwirtlichkeit und extremen Lebensbedingungen vergleichsweise dicht besiedelt war, und betont, dass Qumran allenfalls ein »small Essene outpost« und kein essenisches Zentrum war (dies befand sich vielmehr in Jerusalem, 270). Was aber machte diesen »desolate place« am Nordwestufer des Toten Meeres für die Essener so attraktiv, dass sie ihn für ihr »local centre« wählten? T. geht dieser Frage in den folgenden beiden Kapiteln nach. In »The Dead Sea Scrolls« (272–303) spielen die Höhlen eine besondere Rolle, in »›Roots, Remedies and Properties of Stones‹: Dead Sea Healing« (304–340) stehen Herodes’ kurioses Interesse an den medizinischen Gewächsen der Region und dem heilenden Wasser des Salzmeeres im Mittelpunkt. T. vermutet, dass Herodes den von ihm so respektierten Essenern die »former Hasmonaean enclosure of Qumran« zum Geschenk machte (270 f.; Qumran kann mit J.-B. Humbert also erst ab ca. 34 v. Chr. als essenisch angesehen werden). Dort, wie auch in der Qumran angeschlossenen Siedlung Ein-Feshkha, konnten die Essener nun heilen und medizinische Substanzen herstellen. Die »General Conclusions« fassen die Ergebnisse nochmals zusammen (341–343).
T.s Buch sperrt sich gegen jegliche Vereinnahmung und liefert Vertretern aller Lager überaus viel Stoff zum Nachdenken. Ihre Argumentationen sind hervorragend dokumentiert und voll von zum Teil überraschenden Einsichten. Auch wo der Rezensent T. nicht folgen möchte (so in der Interpretation Qumrans als »scroll burial center in which the occupants fulfilled the commandments of Moses« gemäß TMos 1,16–18 [303]; dazu vgl. M. Popovi, Qumran as Scroll Storehouse in Times of Crisis? A Comparative Perspective on Judaean Desert Manuscripts Collections, JSJ 43, 2012, 551–594 – oder in der damit zusammenhängenden Frage des organischen Zusammenhangs von Rollen, Höhlen und Qumran), bietet das Buch wertvolle Daten und erhellende Perspektiven für einen neuen, fruchtbaren Dialog zwischen Texten und materieller Kultur aus Qumran. Darüber hinaus lehrt T. uns in der Tat die Struktur und Frömmigkeit des palästinischen Judentums neu begreifen. Die außergewöhnlich ausführliche »Bibliography« (344–383) macht das Buch zusätzlich zu einem nützlichen Referenzwerk, der »Index of Ancient Sources« (385–401) und der »Subject Index« (402–418) erschließen sowohl die einzelnen Kapitel als auch den Gesamtzusammenhang mühelos. Mit T.s Buch hat die »Qumran-Essenertheorie« – ich will beinahe sagen erstmals – die neuesten archäologischen und landeskundlichen Ergebnisse vollumfänglich aufgenommen und zu einer innovativen Gesamtsicht vereinigt. Davon wird die Forschung zweifellos noch lange profitieren, und dafür gebührt T. uneingeschränkter Dank.