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Ausgabe:

Januar/2015

Spalte:

82–84

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Pulz, Waltraud [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Zwischen Himmel und Erde. Körperliche Zeichen der Heiligkeit. Hrsg. in Zusammenarbeit m. J. M. Sawilla u. D. Bauer

Verlag:

Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2012. 227 S. m. 23 Abb. = Beiträge zur Hagiographie, 11. Kart. EUR 42,00. ISBN 978-3-515-10283-4.

Rezensent:

Hubertus Lutterbach

Auf heutige Menschen wirken Stigmata, ins Körperinnere eingeprägte Bilder, Unverweslichkeit, jungfräuliche Laktation oder mystische Schwangerschaften verstörend. Und doch galten sie über Jahrhunderte hinweg und weit über das Mittelalter hinaus bis in die (Frühe) Neuzeit hinein als wichtige Zeichen für die Heiligkeit einer Person. Ebendiesem körperbezogenen Thema widmet sich der vorliegende Sammelband – anknüpfend an entsprechende Spezialstudien von Mediävisten wie André Vauchez, Caroline Walker-Bynum oder Klaus Schreiner. Gebündelt zugänglich gemacht werden unter der Herausgeberschaft der Volkskundlerin Waltraud Pulz die meisten Beiträge einer in Rottenburg-Stuttgart abgehaltenen Tagung zur Thematik.
Die vorgelegten Aufsätze werden vier Hauptkapiteln zugeordnet. Unter der Überschrift »Modelle und ihre Modifikation – Ausdrücklichkeit der Zeichen« (Hauptkapitel 1) finden sich vier Beiträge. Peter Dinzelbacher, »Ekstase. Das zentrale körperliche Phänomen der Mystik« (17–33), erläutert, dass »Ekstase« für die Be­troffenen mit einer »extremen Affektbesetzung verbunden war und vom Subjekt als unabweisbar und ununterbrechbar empfunden« wurde. Die »Suspendierung der Sinneswahrnehmungen« und der völlige körperliche Kontrollverlust galten als kardinale Zeichen für mystisches Ergriffensein. Dinzelbacher erläutert entwicklungsgeschichtlich, wie die Umwelt auf derartige körperlich-seelische Ausnahmezustände reagierte: physisch erprobend, theologisch dis­kutierend oder naturwissenschaftlich erklärend. – Ulrich Köpf, »Die Stigmata des Franziskus von Assisi« (35–60), geht als Experte für die Mystik des Mittelalters anhand der von ihm sorgsam sondierten und bewerteten Überlieferungen unter Mitberücksichtigung von deren Rezeptionsgeschichte der Frage nach, wie die Stigmata des Franziskus entstanden. Zwar kommt er zu einem ernüchternden Ergebnis (»Die näheren Umstände der Entstehung der Stigmata bleiben ein Geheimnis.«), bietet dafür aber eine geradezu spannend zu lesende Argumentation. – Jörg Jungmayr, »Ekstase und politische Mission. Die Stigmata der Caterina von Siena (1347–1380)« (61–77), erläutert auf der Basis ausführlicher Quelleninterpretation die Stigmatisation der Caterina – erstens im Unterschied zu derjenigen von Franziskus von Assisi, zweitens in all ihren körperlichen Ausdrucksformen und drittens in ihrer Rezeptionsgeschichte. – Nicole Priesching, »Mystikerinnen des 19. Jahrhunderts – Ein neuer Typus?« (79–97), beantwortet die Titelfrage ihres Beitrages mit mehr Fragen als Antworten, wobei auch die wenigen Antworten trotz der zuvor unternommenen »Fallstudien« (Maria von Mörl und ihr Beichtvater im Kontext biographiegeschichtlicher Vergleiche) eher allgemein bleiben (Mystikerinnen waren »weder Dichterinnen noch Intellektuelle« etc.).
Das Hauptkapitel 2 »Dimensionen des Körperinneren – Eindringlichkeit der Zeichen« bündelt drei Aufsätze: Waltraud Pulz, »Innere Schau und/oder Nabelschau – Blicke auf die Nahrungsabstinenzen der Frühen Neuzeit« (101–121), erläutert mit Bezug auf das 16. und 17. Jh. den Zusammenhang des Verzichts auf irdische Speisen und deren ›Ersatz‹ durch göttliche Speisen. – Catrien Santing, »Herzenswärme, Herzensblut und Herzeleid. Interdisziplinäre ›Kardiologie‹ im Rom der Gegenreformation«, erklärt auf inspirierende Weise die Bedeutung »heiliger Herzen« im theologischen und medizinischen Diskurs – und zwar konkretisiert am Beispiel des Herzens von Philipp Neri. – Xenia von Tippelskirch, »Schmerzen als (un)sichtbare Zeichen von Heiligkeit. Stigmata im Text (Frankreich, 1630–1730)«, entnimmt den zugrunde gelegten Zeugnissen, »dass der Schmerz gerade im 17. Jahrhundert einen Zeichencha-rakter hatte, der die realen blutenden Wunden sogar übertreffen konnte«.
Hauptkapitel 3 »Zeichen der Heiligkeit heute – Ethnologische Perspektiven« bündelt zwei Aufsätze: Annemarie Gronover, »Stigmatisation, Stigmatisierung und Ekstase im Palermo der Gegenwart. Padre Pio und die sozialpolitische und religiöse Aneignung des Heiligen« (167–179), bezieht sich auf Stigmata und Ekstase als »Techniken der Selbstvergewisserung« und bewertet sie als »Imagination eines heilen und heiligen Lebens«. – Waltraud Pulz, »Incorruptio corporis indicat nobis santam vitam perennem. Die Mumien von Vodnjan/Dignano und ihre Instrumentalisierung« (181–206), widmet sich aus kulturwissenschaftlichen Perspektiven den Vorstellungswelten, die Menschen im Blick auf unverweste menschliche Leiber hegen, indem sie sich auf eine bislang noch kaum erforschte kroatische »Sammlung« unverwester Leiber bezieht.
Hauptkapitel 4 »Fromme Leiber – Medizinische Perspektiven« besteht aus einem einzigen Aufsatz: Michael Stolberg, »Möglichkeiten und Grenzen einer retrospektiven Diagnose« (209–227), erläutert die Schwierigkeit, Phänomenen der Frömmigkeit mit Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaften beizukommen.
Zusammenfassend fällt erstens die thematische Häufung der Beiträge zum Thema »Stigmata« auf. Zwar erläutert die Herausgeberin, dass aus den Vorträgen zur »Marienmilch« (Klaus Schreiner) und zum »Geruch der Heiligkeit« (Jan Marco Sawilla) zeitbedingt keine Aufsatzbeiträge wurden. Doch erhebt sich über dieses unbedingt zu bedauernde Faktum hinaus die Frage, warum andere körperliche Zeichen der Heiligkeit gänzlich unerwähnt bleiben (die vox clara als Manifestation der Heiligkeit, der kristallklare Leib, das rosafarbene Aussehen von jahrzehntelang Verstorbenen, körperliche Ausdrucksweisen der göttlichen Einwohnung etc.).
Zweitens ist zu sagen, dass der Sammelband mitunter methodisch unzulänglich wirkt, besonders wenn man die in dieser Hinsicht umfänglich reflektierten Beiträge von Peter Dinzelbacher, Ulrich Köpf oder Catrien Santing als Maßstab heranzieht. Oftmals wird betont, dass medizinisch-naturwissenschaftliche Erklärungen für das Verständnis der überlieferten Phänomene nicht weiterführten. Alternative Deutungsansätze, die den Epochen zwischen Mittelalter und Frühneuzeit eher gerecht werden, bleiben allerdings spärlich. Hier hätte die vermehrte Orientierung an aktuellen kulturwissenschaftlichen Paradigmen nahegelegen. So hätte man den von Heiligkeit gezeichneten Leib als Heilsmedium thematisieren können. Gleichermaßen hätte es nahegelegen, die körperlichen Zeichen der Heiligkeit als Medienereignis zu reflektieren oder sie im Kontext der Memorialkultur zu untersuchen.
Kurzum: Auch wenn der Band bis hinein in die Überschriften der Hauptkapitel eher zufällig komponiert und methodisch wenig innovativ wirkt, lohnt sich die Lektüre einzelner Beiträge, darunter hervorragend diejenigen von Dinzelbacher, Köpf oder Santing.