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Ausgabe:

Dezember/2014

Spalte:

1537–1541

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Schatz, Klaus

Titel/Untertitel:

Geschichte der deutschen Jesuiten (1814–1983). 5 Bde.

Verlag:

Münster: Aschendorff 2013. Bd. I: 1814–1872. XXX, 274 S. Geb. EUR 48,00. ISBN 978-3-402-12964-7. Bd. II: 1872–1917. VI, 321 S. Geb. EUR 52,00. ISBN 978-3-402-12965-4. Bd. III: 1917–1945. VIII, 451 S. Geb. EUR 72,00. ISBN 978-3-402-12966-1. Bd. IV: 1945–1983. X, 534 S. Geb. EUR 85,00. ISBN 978-3-402-12967-8. Bd. V: Quellen, Glossar, Biogramme, Gesamtregister. V, 490 S. Geb. EUR 78,00. ISBN 978-3-402-12968-5.

Rezensent:

Peter Walter

Pünktlich zum 200-jährigen Jubiläum der Wiederherstellung der 1773 durch Papst Clemens XIV. aufgehobenen Gesellschaft Jesu (GJ) im Jahr 1814 erscheint eine groß angelegte Geschichte von deren deutschen »Provinz(en)« aus der Feder des selber diesem Orden angehörenden Frankfurter Kirchenhistorikers Klaus Schatz. Wer mit ihm in den letzten Jahren zu tun hatte, wusste, dass er mit ganzer Kraft an der Fortsetzung des »Duhr« gearbeitet hat, der monumentalen, zwischen 1907 und 1928 in sechs Teilbänden erschienenen »Geschichte der Jesuiten in den Ländern deutscher Zunge« des Jesuiten Bernhard Duhr, die von der Gründung des Ordens im 16. Jh. bis zu seiner Aufhebung reicht. In geographischer Hinsicht jedoch sind beide nicht einfach deckungsgleich. Während das Vorgängerwerk die Geschichte der deutschsprachigen Jesuiten im Heiligen Römischen Reich, in der Schweiz sowie in Ost- und Westpreußen behandelt, hat sich S. entschieden, die Österreichische Jesuitenprovinz nicht mit einzubeziehen, da er dann mehr oder weniger die gesamte Habsburgermonarchie, insbesondere Un­garn, wo erst 1909 eine eigene Ordensprovinz gebildet wurde, hätte mitbehandeln müssen. Diese nicht zuletzt aus sprachlichen Gründen verständliche Entscheidung mag man bedauern, und man kann nur hoffen, dass auch der österreichische Teil der »neuen« GJ bald eine ähnlich gründliche Darstellung findet. Die Schweiz, und keineswegs nur die deutschsprachige, ist jedoch bis zur Bildung einer eigenen »Vizeprovinz« im Jahre 1947 mitbehandelt. Dies hat seinen sachlichen Grund darin, dass auf ihrem Territorium die GJ nach ihrer Wiederherstellung zuerst Fuß gefasst hat und Angehörige deutscher Staaten wegen der dort geltenden restriktiven staatskirchenrechtlichen Bedingungen zunächst nur hier eintreten konnten.
Während die ersten vier Bände die eigentliche Geschichtserzählung beinhalten, liefert der fünfte Band neben dem Quellen- und Literaturverzeichnis sowie statistischen Angaben hauptsächlich die Lebensdaten der deutschen bzw. in Deutschland tätigen und in dem Gesamtwerk vorkommenden Jesuiten (V, 85–417). Überaus hilfreich, nicht nur für die Benutzung dieses Werkes, ist das »Jesuitische Glossar« (V, 43–56), welches das für Außenstehende oft wenig verständliche Insideridiom entschlüsselt. Wer weiß schon, was sich hinter einer »Merenda« verbirgt? Wer allerdings mehr über diese morgendliche Zwischenmahlzeit und die früher dazu gereichten geistigen Getränke erfahren möchte, sollte das vorzügliche Regis­ter (Stichwort: Merenda) am Ende dieses Bandes konsultieren. Wer sein Bild vom hyperaszetischen Jesuiten korrigieren möchte, wird bei den Stichworten Bierbrauereien, Bierkonsum, Essen und Trinken sowie Rauchen fündig, wo nur der Schnupftabak fehlt. Leider fehlt auch die häufig vorkommende »Turme« von lat. turma (Schar, Trupp) für kleine, etwa zur Vortragstätigkeit gebildete Abteilungen von Jesuiten.
Die Darstellung gliedert sich in acht Teile: Der 1. Teil behandelt nach einem Blick auf den Zustand der GJ kurz vor ihrer Aufhebung die Zeitspanne zwischen 1773 und der Wiedergründung, in der der Orden jedoch nicht ganz tot war. In den nach der ersten polnischen Teilung (1772) zum russischen Reich gekommenen katholischen Territorien blieb er bestehen, weil er für die Aufrechterhaltung des Unterrichts notwendig war und Zarin Katharina II. deshalb die Verkündung des päpstlichen Aufhebungsbreves verweigerte, wie zunächst auch Friedrich II. aus demselben Grund für die damals zu Preußen geschlagenen Teile Schlesiens. An die in Russland zu­nächst mit stillschweigender Duldung, ab 1801 mit ausdrücklicher Billigung des Papstes weiterexistierende GJ, aber auch an die von dem vom Hl. Offizium gemaßregelten und unter ungeklärten Umständen ums Leben gekommenen Niccolò Paccanari als Ersatz für die Jesuiten gegründeten »Väter des Glaubens Jesu« knüpften die Wiederbelebungsversuche an, die 1810 in Sitten im Wallis zum Anschluss einer dort bestehenden kleinen Gruppe von »Paccanaris­ten« an die in Russland bereits wiederzugelassene GJ führte. Nach der von Pius VII. kurz nach seiner Rückkehr aus der napoleonischen Gefangenschaft nach Rom vollzogenen Wiedererrichtung des Ordens für die Gesamtkirche (1814) wurden sie als »Missio Helve-tica« in diesen integriert. 1826 wurde diese zur Provinz »Germania superior« erhoben.
Dieser vom erstaunlichen Durchhaltewillen und Improvisationstalent der Beteiligten geprägten Phase, die mit der Vertreibung der GJ aus der Schweiz im Gefolge des Sonderbundkrieges (1847) und aus fast ganz Europa im Revolutionsjahr 1848 endet, ist der 2. Teil des vorliegenden Werkes gewidmet. Konnte S. hierfür auf zusammenfassende Arbeiten anderer zurückgreifen, betritt er mit dem 3. Teil, der die erste deutsche Periode behandelt, und noch mehr mit den folgenden, weitgehend Neuland. Ausgerechnet im Gefolge der 1848er-Revolution eröffneten sich der GJ erstmals Möglichkeiten, in einzelnen deutschen Staaten, vor allem in Preußen, Fuß zu fassen, weshalb auch von der »preußischen Periode« die Rede ist. Diese ging mit dem Verbot der GJ und deren Ausweisung aus dem Deutschen Reich (1872) zu Ende. In dieser Phase hat der Orden in Deutschland Fuß gefasst und sich rasch konsolidiert. Er besaß zwei Noviziate und seit 1863 eine philosophisch- theolo-gische Hochschule in Maria Laach. Hier gab der Orden apologetisch orientierte Schriften heraus mit dem Untertitel »Stimmen aus Maria Laach«, aus denen eine eigene Zeitschrift hervorging, die den Namen auch trug, nachdem die Jesuiten diesen Ort verlassen mussten; erst 1914 erhielt sie den noch heute gebrauchten: »Stimmen der Zeit«. Durch diese blieb der Orden im Deutschen Reich auch dann präsent, als er offiziell verboten war.
Der 4. Teil, der die »Zeit der Verbannung« bis zur Aufhebung des Jesuitengesetzes 1917 behandelt und der mit dem zweiten Band identisch ist, zeigt, dass das Verbot des Ordens keineswegs das völlige Verschwinden der Jesuiten zur Folge hatte. Als Einzelne konnten sie, wenn auch teilweise unter Restriktionen und Schikanen, weiter wirken und erstaunliche Aktivitäten entfalten. Die Titelseite einer Ausgabe des »Simplicissimus« aus dem Jahre 1902, auf der kleinformatige Jesuiten vor dem deutschen Schlagbaum stehen, während sich dahinter riesengroße aufhalten (II, 299), lässt deutlich werden, dass dies auch allgemein so wahrgenommen wurde. Als der Orden wieder zugelassen wurde, war er schon längst wieder da. Gleichwohl hatten die Schwierigkeiten in der Heimat nicht nur die Verlagerung der Ausbildungsstätten ins benachbarte Ausland zur Folge, wo hauptsächlich der westfälische Adel mit seinen niederländischen Besitzungen aushalf, sie führten auch zu einem systematischen Engagement in Nord- und Südamerika, in Asien, besonders in Indien und Japan, sowie in Afrika.
Mit zu den interessantesten Passagen des Werkes gehören die or­densinternen Auseinandersetzungen um Eurozentrismus und Inkulturation in der indischen Mission bereits im 19. Jh., wobei auch die Selbstherrlichkeit einzelner als Bischöfe eingesetzter Jesuiten eine Rolle spielte (II, 219–249). Der 5. Teil, identisch mit Band 3, umfasst die Zeit von 1917 bis 1945. Diese ist zunächst bis in die Mitte der 30er Jahre durch eine besonders starke Expansion gekennzeichnet, die die Aufteilung der einen deutschen Provinz in eine Nord- und eine Südprovinz (1921) und schließlich die Bildung einer Ostprovinz (1931) nahelegte. Zugleich wurden zwei Ausbildungszentren geschaffen, die Philosophische Hochschule in Pullach bei München und die Theologische in Frankfurt/St. Georgen.
Mit dem Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft bricht für die GJ die Zeit einer erneuten Verfolgung an. Jedoch konzentriert sich S. keineswegs nur auf den Widerstand einzelner Jesuiten, die diesen, wie Alfred Delp, der wohl Bekannteste unter ihnen, mit dem Leben bezahlten. Er verschweigt auch die Versuche nicht, sich zunächst mit dem Regime zu arrangieren, wie etwa die Hitler-Bilder auf den Schreibtischen junger Jesuiten oder die Einrichtung einer eigenen Hitler-Jugend in St. Blasien zeigen. Ingesamt finden sich in der GJ ähnliche Positionen wie im Katholizismus insgesamt, wobei »Brückenbauer« zwischen GJ und Nationalsozialismus eine verschwindende Ausnahme bildeten. Gleichwohl prägt S. die bündige Formulierung: »Der Anti-Jesuitismus der Nationalsozialisten war einheitlicher und konsequenter als der Anti-Nationalsozialismus der Jesuiten.« (IV, 450) Die differenzierte Darstellung dieser Epoche, für die S. auch neue Quellen heranzieht, gehört zu den Glanzstücken des Werkes. Bei der Beschreibung des Wiederauf-baus nach dem Zweiten Weltkrieg im 6. Teil fühlt man sich an die Improvisationen im 19. Jh. erinnert. Obwohl die GJ weltweit mit über 36.000 Mitgliedern am Ende dieses Zeitraums (1965) ihren höchsten Stand erreicht, zeichnet sich der personelle Rückgang bereits seit den 50er Jahren ab. Noch aber ist eine große Zahl von Jesuiten vorhanden, die, was Ausbildung und Einsatz in den verschiedensten Tätigkeitsbereichen angeht, koordiniert werden wollen.
Deutsche Jesuiten spielen in der Theologie der Zeit und nicht zuletzt auf dem Zweiten Vaticanum eine wichtige Rolle, auch wenn nicht alle die Bekanntheit eines Karl Rahner erreichen. Der 7.Teil, der bis 1983 reicht, steht, wie S. eingangs unterstreicht, un­ter besonderen methodischen Voraussetzungen. Dadurch, dass er hier wie im vorangehenden Teil häufig Zeitzeugen bemüht und vielfach selber in die Rolle eines solchen schlüpft, gewinnt die Darstellung an Tiefenschärfe, ganz abgesehen vom Unterhaltungswert mancher Anekdoten. Betrachtet man diese unter der Ägide des Ordensgenerals Pedro Arrupe stehende Epoche, kann man auf die Idee kommen, diesen als »Stifter einer ›dritten GJ‹ (nach der alten bis 1773 und der neuen seit 1814)« (IV, 344) zu sehen. Vollzieht d er Orden doch unter seiner Leitung und im Anschluss an das Zweite Vatikanische Konzil die entschiedene Abwendung von einer mehr oder weniger strikten Antihaltung gegenüber der Mo­derne hin zu einer kritischen Zeitgenossenschaft. Auch wenn wegen Personalmangels viele Stationen und Wirkungsfelder aufgegeben werden müssen und 1978 die Ostprovinz wiederum mit der Westprovinz vereinigt wird (und beide 2004 zu einer zusammengelegt werden), ist die GJ, nicht zuletzt mit ihrer nach München verlegten Philosophischen Hochschule wie mit deren theologischem Pendant in Frankfurt St. Georgen, in Deutschland nach wie vor präsent.
Alle Teile des Werkes sind nach einem mehr oder weniger gleich bleibenden Schema aufgebaut. Zunächst werden jeweils kurz die Gesamtentwicklung des Jesuitenordens und der deutschen Provinz(en) vorgestellt. In diesem Rahmen wird dann die Geschichte der einzelnen Häuser beschrieben. Es folgen Abschnitte über die Situation des Nachwuchses und dessen Ausbildung sowie über die Tätigkeitsfelder der Jesuiten. Einen festen Platz haben auch die von der Provinz betreuten Missionen, die Schweiz (bis 1947) sowie das römische Collegium Germanicum et Hungaricum, das zwar nicht zur deutschen Provinz gehört, aber von dort zu einem großen Teil mit Personal versorgt wird. (Hier ist die einzige gewichtigere Literaturlücke zu beklagen, die dem Rezensenten aufgefallen ist: Es fehlt die grundlegende Studie von Peter Schmidt, Das Collegium Germanicum in Rom und die Germaniker. Zur Funktion eines römischen Ausländerseminars [1552–1914], Tübingen 1984.) Dazu kommen für die jeweiligen Teile spezifische Abschnitte, zu denen nicht nur die politischen und kirchlichen Auseinandersetzungen gehören, in die der Orden oder einzelne Mitglieder verwickelt waren, sondern auch zahlreiche Konfliktfälle und Skandale. Der durch Hubert Wolf (Die Nonnen von Sant’Ambrogio. Eine wahre Geschichte, München 2013) aufgedeckte des führenden Neuscholastikers Joseph Kleutgen wird zwar erwähnt (I, 239), aber diese Veröffentlichung kam zu spät, um noch stärker ausgewertet zu werden.
Die in einem schnörkellosen Stil geschriebene Darstellung ist frei von jeglicher Apologetik. Das kommt ihr auch in den beiden »heikle[n] Exkurse[n]« zu »Entlassungen aus dem Orden« und »Missbrauchsfälle[n]« zugute, mit denen sie schließt (V, 523–534). Das Werk ist nicht nur für die Geschichte der GJ, sondern auch für die Kirchengeschichte des 19. und 20. Jh.s eine wahre Fundgrube. Während das souveräne historische Urteil S.s über jeden Zweifel erhaben ist, gilt dies nicht für jedes Detail. So begegnen zum Beispiel dieselben Patres bisweilen mit unterschiedlichen Vornamen, wobei die im Register verwendeten stets korrekt zu sein scheinen. Doch solche Ausstellungen können die Bewunderung für diese große Leistung in keiner Weise mindern.