Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/2014

Spalte:

1226–1227

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Pirker, Viera

Titel/Untertitel:

Fluide und fragil. Identität als Grundoption zeitsensibler Pastoralpsychologie.

Verlag:

Ostfildern: Matthias-Grünewald-Verlag 2013. 459 S. = Zeitzeichen, 31. Kart. EUR 39,00. ISBN 978-3-7867-2975-4.

Rezensent:

Godwin Lämmermann

Die Sankt Gallener Dissertation von Viera Pirker stellt einen weiteren Versuch dar, die Handlungsperspektive der Praktischen Theologie konstitutiv vom Gedanken einer sozial kontextualisierten Identität her zu entwickeln. Zutreffend und kenntnisreich, aber nicht immer in einer erkennbaren Systematik nach plausiblen Auswahlkriterien und mitunter auch ein wenig unkritisch, referiert sie zunächst die mittlerweile klassisch zu nennenden Identitätstheorien; weniger wäre nicht nur hier vielleicht mehr gewesen. Positiv fällt in diesem Zusammenhang die Berücksichtigung der sozialpsychologischen Überlegungen z. B. von H. Keupp auf, denen eine »zeitdiagnostische Schlüsselkraft« (141) zugeschrieben wird. Allerdings ist dieser Autor – zumindest in der evangelischen Praktischen Theologie – nicht so unrezipiert wie behauptet. Andere diesbezüglich wichtige Autoren und Autorinnen (z. B. G. Nunner-Winkler, R. Döbert, H. Fend, weitgehend aber auch die einschlägigen Erwägungen von J. Habermas) fehlen, obwohl hier nicht nur sozial-, sondern auch entwicklungspsychologische Aspekte – gerade auch im Blick auf die Adoleszenz – thematisiert werden.
In entwicklungspsychologischer Hinsicht liegt der Schwerpunkt der Arbeit natürlich bei E. Erikson (und seinen Nachfolgern), mit dem sich P. konstruktiv, aber auch kritisch auseinandersetzt, weil Identität »sich heute in einem vollkommen veränderten kulturellen und gesellschaftlichen Kontext« bilden muss – doch wie dieser aussieht, erfahren wir nicht bzw. bestenfalls in den Andeutungen zur Postmoderne; deshalb bleibt auch der Zentralbegriff »zeitsensibel« unpräzise – er ist im Grunde nur ein Synonym für aufmerksam.
Über G. H. Mead gehen dann die Überlegungen hin zur Frage nach einer sozialen Identität, die sich in einem realistischen Selbstkonzept manifestiert. Diesem Gedanken wird dann in tiefen-psychologischer Perspektive nachgegangen – wobei auch hier im Grunde (bis zur Neuropsychologie) nichts ausgelassen wird, so dass sich der rote Faden leicht verliert.
Gleiches gilt auch für die nachfolgende Darstellung der Ge­schichte der Pastoralpsychologie (cui bono?), die verständlicherweise primär auf die katholisch-theologische Tradition aus der ersten Hälfte des 20. Jh.s fokussiert wird, auch wenn dann zur Gegenstandsdefinition der Pastoralpsychologie im Wesentlichen protes­tantische Vertreter zitiert werden. In Auseinandersetzung mit ihnen grenzt P. das Paradigma einer Religionspsychologie von dem einer Pastoralpsychologie ab, weil in dieser größere (kirchliche) Handlungspotentiale liegen; dabei wird sie zum Kern der Praktischen Theologie überhaupt erklärt – ein Postulat, das in der wissenschafts- und theologietheoretischen Diskussion ja nicht wirklich unumstritten ist und deshalb in Auseinandersetzung mit dieser zu begründen wäre.
Das Zentrum der Dissertation von P. liegt im vierten Kapitel, in dem sie nach langem Anmarsch für eine zeitsensible Pastoraltheologie plädiert. Aber auch hier wird weit ausgeholt, um systematisch-theologisch die theologische Legitimität des Identitäts-begriffs abzusichern. P. zeigt dann, wie der Begriff bei sich eher liberal-kritisch verstehenden katholischen Praktologen expliziert wird, um dann – ganz zentral für die eigenen Überlegungen – ausführlich H. Luther zu referieren, weil sich seine Überlegungen zur fragmentarischen Identität, die Grenzen erfährt und überschreitet, zu einer Identität uminterpretieren lässt, »die zugleich fluide und fragil, elastisch und zerbrechlich, beweglich und gefährdet« (366) ist. Wie H. Luther plädiert P. gegen ein Defizitmodell in der Seelsorge und dafür, »an Ressourcen und Stärken der Menschen anzusetzen« (412). Eine solche Identität ist aber jeweils gefährdet und bedarf einer empathisch-compassionellen Seelsorge. Wie diese al­lerdings praktisch aussieht, bleibt offen. Hier hätten z. B. pastoralpsychologische Fallbeispiele illustrierenden Charakter gehabt. Oder man hätte sich Handlungskonzepte für solche Compassion gewünscht. Die einleitend referierte Psychoanalyse, die Gesprächspsychotherapie usw. hätten Anregungen bieten können. So bleibt die Dissertation das, was sie am Anfang als Defizit formulierte: theorielastig. Aber das ist nun einmal das Schicksal der Gattung Dissertation, die für die Diskussion um eine zeitsensible Seelsorge viel Material zusammengetragen hat.