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Ausgabe:

Oktober/2014

Spalte:

1221–1223

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Merle, Kristin [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Kulturwelten. Zum Problem des Fremdverstehens in der Seelsorge.

Verlag:

Münster u. a.: LIT Verlag 2013. 344 S. = Studien zu Religion und Kultur, 3. Kart. EUR 34,90. ISBN 978-3-643-11629-1.

Rezensent:

Wilfried Engemann

Angesichts der grundsätzlichen Bedeutung kultureller Prozesse für die Theologie und der besonderen Relevanz soziokultureller Entwicklungen für die religiöse Praxis in einer Gesellschaft widerspiegelt die zunehmende Auseinandersetzung mit den sich daraus ergebenden Konsequenzen für die klassischen Handlungsfelder der Kirche einen unübersehbaren Orientierungs-, Argumentations- und Handlungsbedarf. Der von Kristin Merle herausgegebene Band steht in einer Linie mit einer ganzen Reihe von Titeln, die sich seit etwa 25 Jahren gezielt mit der Frage befassen, was es für die u. a. helfende, beratende, heilende, rituelle religiöse Praxis des Chris­tentums heißt, dass sie (1.) unter permanent sich verändernden Verstehens- und Kommunikationsbedingungen stattfindet, und (2.) in der Gefahr steht, sich den Zeitgenossen zu entfremden. Zusätzlich (3.) wird jene Praxis durch besondere interkulturelle und interreligiöse Faktizitäten herausgefordert. Eine zeitgenössische Theologie – und die von ihr zu verantwortende Theorie religiöser Praxis – kann nicht nur nicht mehr mit dem Anspruch auftreten, Gott und die Welt zu erklären; sie muss selbst um ein adäquates Verständnis des Menschen als eines in verschiedensten Hinsichten Fremden ringen, um auf dieser Basis stimmige, sinnvolle, kohärente (im nicht-konfessionellen Sinn:) evangelische seelsorgliche Interaktionen zu eröffnen.
Das Buch nimmt in seinen Beiträgen einen Argumentationsrahmen auf, der – um nur einige wichtige Positionslichter zu nennen – von Jürgen Ziemer (Fremdheit überwinden. Sprache und Verständigung im seelsorgerlichen Gespräch, in: PTh 78, 184–195) über Albrecht Grözinger (Differenz-Erfahrungen. Seelsorge in der multikulturellen Gesellschaft, Waltrop 1995), Karl Federschmidt/Eberhard Hauschildt u. a. (Handbuch Interkulturelle Seelsorge, Neukirchen-Vluyn 2002), die Arbeiten von Christoph Schneider Harpprecht (z. B. Das Reine und das Vermischte. Produktive Missverständnisse und kreative Differenzerfahrungen, in: Federschmidt/Hauschildt, a. a. O., 102–112) bis hin zu Constanze Thierfelders Studie (Durch den Spiegel der Anderen. Wahrnehmung von Fremdheit und Differenz in Seelsorge und Beratung, Göttingen 2009) reicht. Im Unterschied zu vielen anderen Sammelbänden handelt es sich bei dem vorliegenden Buch um den überzeugenden Versuch, an vorliegende Anregungen, Ergebnisse und Einsichten anzuknüpfen, sie zu diskutieren, weiterzuführen und durch neue Beobachtungen und Kategorien zu ergänzen.
Dadurch bekommt man in diesem Band nun auch zu lesen, wie das, was unter den besonderen Bedingungen des Fremdverstehens etwa im Bereich der interkulturellen und interreligiösen Seelsorge wahrgenommen und durchdacht wurde, für ganz grundsätzliche Fragen der seelsorglichen Gesprächskompetenz fruchtbar gemacht werden kann. Die Beiträge kreisen um verschiedene Aspekte, Kontexte und Kriterien des Verstehens und machen diese unausweichliche, in der Praxis oft unterschätzte Voraussetzung bzw. ›Leistung‹ von Seelsorge in ihrer Komplexität sichtbar. »Hier wird reflektiert, dass Menschen, die in der seelsorglichen Interaktion aufeinandertreffen, gegebenenfalls in unterschiedlichen kulturellen und religiösen, gesellschaftlichen, ökonomischen, politischen, ethnischen etc. Zusammenhängen leben, wobei diese Kontexte wiederum un­terschiedliche Werteinstellungen, Präferenzen und Begründungsmuster mit Blick auf die Deutung von Selbst und Welt einschließlich ethisch-moralischer Implikationen mit sich bringt.« (8) Ganz im Sinne der einleitenden Bemerkungen dieser Rezension werfen die meisten der Beiträge die Frage nach dem Verstehen nicht einseitig auf, sondern haben auch das Potential an Irritationen, Er­schütterungen, an Differenz und Nicht-Verstehen gewissermaßen als seelsorgetheoretisches Gesprächsgut im Blick, das unentbehrlich sowohl für eine entautomatisierte Wahrnehmung des Seelsorge nachfragenden Einzelnen ist als auch der kontinuierlichen Auseinandersetzung mit den Methoden und theologischen Prämissen der Seelsorge selbst dient.
Es versteht sich von selbst, dass ein solches Projekt nicht durchgeführt werden kann, ohne sich (1.) erneut mit den entsprechenden Grundbegriffen der Seelsorgelehre zu befassen, (2.) anhand ausgewählter Praxisfelder die aufgeworfenen hermeneutischen Fragen zu präzisieren und schließlich (3.) Impulse zu bieten, die sich dafür eignen, mit Bezug auf das Problem bzw. die Kategorie des Fremdverstehens die Facetten einer »kultursensiblen Seelsorge und Seelsorgelehre« zu erörtern. Dementsprechend gliedert die Herausgeberin das Buch in folgende Teile: Teil I: »Diskursbezüge« (15–114), Teil II: »Phänomenologie der Anlässe – Schnittstellen« (115–274) und Teil III: »Hermeneutik im Übergang« (275–336).
Die einzelnen Beiträge passen sich thematisch gut in das von Merle vorgegebene Konzept ein: So bietet der erste Teil tatsächlich eine die aktuellen Diskurse aufnehmende Annäherung an wich-tige Begriffe der Seelsorgelehre: Kristin Merle: Fremdheit und Verstehen, Wilhelm Gräb: Religion und Glaube/Spiritualität, Regine Herbrik: Kultur und Gesellschaft, Gerd Sebald: Lebenswelt und Milieu, Jörg Metelmann: Medialität und Emotionalität. Interessant am zweiten Teil ist der Versuch, über die klassischen Bezugsfelder der Seelsorgelehre hinauszugehen: Neben die Erfahrungen des Fremdverstehens im Kontext der etablierten – und dabei oft höchst ungewöhnlichen – Kasualien (Cäcilie Blume), im Krankenhaus (Tabitha Walther), im Strafvollzug (Martin Krauß) sowie im schulischen Bereich (Henrik Simojoki) werden Beobachtungen gestellt, die in anderen »Kulturwelten« von Seelsorgerinnen und Seelsorgern gemacht werden: So erörtert Thomas H. Böhm die Verstehensbedingungen der Seelsorge im Internet, Klaus Nagorni entfaltet eine kleine Landkarte der Seelsorge im Urlaub (»Reisen als Erfahrung des Anderen«), Kerstin Söderblom setzt sich mit den Möglichkeiten und Grenzen der Flughafenseelsorge auseinander und Bernhard Eisel führt unter Verweis auf ethnographische Aspekte in die Zirkus- und Schaustellerseelsorge ein. Damit wird nicht nur das Bewusstsein für das Spektrum der kasuellen Seelsorge erweitert, sondern es wird aus verschiedenen Perspektiven detailliert auf die grundsätzlichen Faktoren seelsorglicher Interaktion Bezug genommen, die durch die schlaglichtartigen Beiträge des zweiten Teils neu zur Diskussion gestellt werden.
Der dritte Teil dieses Werkes markiert einige hermeneutische Leitlinien, die mit zum Teil weitreichenden theologischen, insbesondere anthropologischen Konsequenzen verbunden sind. Das gilt für die von Ottmar Fuchs erarbeiteten seelsorglichen Prinzipien (z. B. »Sein lassen und nicht im Stich lassen«, »Ermöglichungsräume für den aufrechten Gang«, »Seelsorge als Basis riskanter Zivilcourage«) ebenso wie für Birgit Weyels Annäherung an die Faktoren von Interkulturalität, die die Kommunikationsprozesse innerhalb einer Kultur sowie in der speziellen Situation seelsorglicher Kommunikation zwischen Angehörigen unterschiedlicher Kulturen gleichermaßen bedingen. Ein ausführlicher Beitrag vom Helmut Weiß ist der Frage gewidmet, was dies alles für die seelsorgliche Didaktik bedeutet. Er macht Vorschläge, wie die »Einübung von Fremdverstehen« in der Seelsorgeausbildung angemessen zur Geltung kommen könnte.
Gründliches Redigieren, einheitliche und vollständige Zitierweise, last but not least ein kohärentes editorisches Konzept eröffnen Leserinnen und Lesern eine anregende Anknüpfung an den aktuellen Diskurs um hermeneutische Fragen der Seelsorgelehre. Der Gebrauch dieses Bandes als Nachschlagewerk wird dadurch eingeschränkt, dass man auf jegliche Register verzichtet hat, was angesichts der Breite der Themen und der erfreulichen Tiefe der meisten Beiträge zu bedauern ist.