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Ausgabe:

September/2014

Spalte:

1095–1107

Kategorie:

Literatur- und Forschungsberichte

Autor/Hrsg.:

Ruben Zimmermann

Titel/Untertitel:

Englischsprachige Literatur zur neutestamentlichen Ethik

In der deutschsprachigen Theologie kommt ein Austausch zwischen neutestamentlicher Wissenschaft und systematisch-theologischer Ethik nur schleppend in Gang,1 obwohl dem Dialog dieser Disziplinen »besondere Bedeutung für die evangelische Ethik zu(kommt), jedenfalls gemessen an dem im Adjektiv ›evangelisch‹ enthaltenen Anspruch, eine am Evangelium orientierte Ethik zu sein.«2 Eine erste Voraussetzung dieses Dialogs stellt die wechselseitige Wahrnehmung dar. Der vorliegende Literaturbericht möchte hierzu einen Beitrag leisten, indem er englischsprachige Arbeiten zur neutestamentlichen Ethik etwa der letzten zehn Jahre in den Blick nimmt.

I Übergreifende Arbeiten



Nach den Monographien von Meeks (1993) und Hays (1996)3 sucht man Gesamtdarstellungen zur neutestamentlichen Ethik in den 2000er Jahren vergeblich. Einen gewissen Ersatz stellen einige Sammelbände dar: Unter dem Leitbegriff »Paränese« wurden von James Starr und Troels Engberg-Pedersen Vorträge von Konferenzen in Lund und Oslo dokumentiert.4 Paränese wird – entsprechend der Vereinbarung auf der zweiten Konferenz – folgendermaßen definiert: »(Paraenesis is a) concise, benevolent injunction that reminds of moral practices to be pursued or avoided, expresses or implies a shared worldview, and does not anticipate disagreement.« (79 f.) Die Herausgeber wollen Paränese nicht nur im vorchristlichen, besonders hellenistischen Kontext verankern, sondern im Anschluss an Dibelius auch die Gattung bzw. Funktion der Paränese in den Vordergrund stellen. Mit dieser klaren Fokussierung geht dann aber zugleich eine Begrenzung einher: Zwar finden sich interessante Beiträge zu den Zwölfpatriarchentestamenten (J. Thomas), der Oratio XII von Dion von Prusa (H.-D. Betz) oder zum »Euthalian Apparatus« (D. Hellholm, V. Blomkvist). Der neutestamentliche Teil ist hingegen auf Beiträge zu Tit, Hebr, 1Petr, 1Joh reduziert, so dass zwar ein beachtenswerter, insgesamt mit Blick auf Begriff und Quellen jedoch recht begrenzter Beitrag zur Ethik des Neuen Testaments geleistet wird.

Hierin unterscheidet sich der umfangreiche, von Jan G. van der Watt (Nijmegen) herausgegebene Band Identity, Ethics, and Ethos in the New Testament (2006).5 Nach einem forschungsgeschichtlich orientierten Einleitungsbeitrag »Mapping the field: Approaches to New Testament Ethics« (R. B. Hays, 3–19) bietet er im Hauptteil Artikel zu jedem neutestamentlichen Buch; mit 2Clem wird zu­sätzlich noch eine nicht-kanonische Schrift behandelt. Auch dieser Band ist aus Konferenzen hervorgegangen, die 2004/05 in Pretoria/ Südafrika stattfanden und damit auch erklären, warum bis auf fünf Beiträger ausschließlich südafrikanische Neutestamentler beteiligt sind. Besonders verdienstvoll ist die knappe Einführung des Herausgebers (IV–IX), in der er die Leitbegriffe »Identität«, »Ethik« und »Ethos« definiert, sowie ein Schlusskapitel (611–632), in dem er den Wert des Bandes in zweierlei Hinsicht zusammenfasst: »It became apparent through the articles that no single ethical structure or code or set of guidelines exists. Ethical conduct, as it is de-scribed in these texts, is determined by different situations and is not intended to offer a single ›objective ethical system‹« (611). Doch die Darstellung der Diversität neutestamentlicher Ethik soll zu­gleich nicht in eine zusammenhanglose Pluralität diffundieren. Inmitten kanonischer Vielfalt erkennt der Herausgeber »some gol-den threads that could be identified as running through all the documents, some are explicit and some are more implicit […] The basic patterns are the same, although there is rich variety in the detail« (611), wobei sowohl theologische (besonders christologische und pneumatologische) Begründungsstrukturen als auch übergreifende Normen (z. B. Liebe, Dienst) benannt werden. Doch sowohl in dieser Frage der Einheit und Vielfalt als auch hinsichtlich des Ineinanders der Leitbegriffe etwa der Analysierbarkeit des ge­lebten Ethos bzw. der Berechtigung der Anwendbarkeit des »Ethik-Begriffs« auf die Schriften des Neuen Testaments markiert der Band weiteren Klärungsbedarf.

Einen vergleichbaren Anspruch des Überblicks hat das jüngst von Joel B. Green herausgegebene Buch The New Testament and Ethics (2013).6 Was hier als eigener Band präsentiert wird, sind jedoch Auszüge aus dem umfangreichen Lexikon »Dictionary of Scripture and Ethics« (Grand Rapids: Baker Academic 2011) desselben Herausgebers. Die Zusammenstellung versteht sich als ein Überblick, der die Ethik jedes neutestamentlichen Buches und sogar noch der Apostolischen Väter und zusätzlich der Didache mit je einem knappen Artikel (meist ca. zwei Seiten) darlegt. Darüber hinaus werden drei einleitende Artikel (z. B. »Ethics in Scripture« von Allen Verhey) sowie zehn Themenartikel (z. B. »Kingdom of God« von Bruce Chilton) präsentiert. Man fragt sich, ob der Ertrag derartiger Sekundärpublikationen nicht vorrangig marktwirtschaftlicher Art ist. Gleichwohl werden auf diese Weise auch konzeptionelle Entscheidungen offenbar, die das ganze Lexikon betreffen. So hat ein einziger Autor (Robert L. Brawley) alle Artikel zu den Evangelien und der Apg verfasst, während bei den einzelnen paulinischen Briefen eine breitere Streuung durch Beteiligung von vier Autoren erkennbar wird und nur Victor Paul Furnish mit vier Artikeln heraussticht (Romans, Galatians, Philippians, Philemon).

Die Artikel beginnen mit kurzen einleitungswissenschaftlichen Notizen zu den jeweiligen Schriften. Aufgrund fehlender gemeinsamer Begriffs- und Konzeptklarheit obliegt es dann aber jedem einzelnen Autor zu bestimmen, worin er den ethischen Gehalt der Schrift erkennt: So kann R. Brawley zu Mk »Jesus’ ethical teaching« oder die »norms for judging people« herausarbeiten (44), D. Horrell hebt zum 1Kor die »metanorms of Paul’s ethics […] as those of corporate solidarity and other-regard« (59, dazu unten) hervor, während D. A. deSilva den wesentlichen Beitrag der Ethik des Hebr in der pragmatischen Funktion des Schreibens erkennt »that the author invokes for making ethical choices.« (79)

Ein Anliegen des Dictionary wie auch dieses Konvoluts ist es, »to recover the Bible for moral formation, offered needed orientation and perspective on the vital relationship between Scripture and ethics« (Backcover). In einigen Artikeln wird dieser Anspruch durchaus eingelöst, wenn etwa D. Horrell nach »its relevance and contribution to contemporary ethical discourse« fragt und differenziert mögliche (Paul’s teaching on marriage and divorce) oder unmögliche (Food offered to idols) Anschlussstellen benennt (59). Auch der Beitrag »Healthcare Systems in Scripture« (96–100) von J. B. Green markiert schon durch die Überschrift ein für den gegenwärtigen Diskurs anschlussfähiges Thema. In der Regel wird je­doch dieser Anspruch nicht eingelöst, sei es, dass der Versuch von Brückenschlägen unterbleibt, sei es, dass er zu allgemein und hermeneutisch unreflektiert erfolgt (z. B. »Colossians’ treatment of ethics suggest that believers should look to the identity that they have been granted in Christ […]« (69).

Der Anglikanische Neutestamentler Richard Burridge (King’s College, London) möchte mit seinem Buch Imitating Jesus (2007)7 einen Zugang zur neutestamentlichen Ethik bahnen, der den gegenwärtigen Rezeptionskontext von vornherein mit einbezieht. Dieses Programm wird bereits im ersten Satz erkennbar (»how to apply the Bible to moral issues and ethical debate«, 1), dann aber auch durch die Reflexion des eigenen (auch persönlichen, 16–19) Forschungsstandpunkts im ersten Kapitel offen benannt und mündet in ein umfangreiches Applikationskapitel, das den Ge­brauch des Neuen Testaments im Kontext der südafrikanischen Apartheid untersucht (Kapitel VIII, 347–409). Allerdings ist es auch die Erfahrung des Autors in diesem Kontext, die ihm gebietet, »to take a step back from contemporary debates and look directly at the New Testament, what ethical material it might contain and how we should read these books today« (3). Eine methodisch wesentliche Weichenstellung sieht Burridge darin, dass er die Makro-Gattung der Texte gebührend gewichtet, weshalb die großen Lehrreden Jesu eingebettet werden in »biographical narratives« (25). Dies knüpft an die früheren formkritischen Arbeiten des Autors an. 8 Es ist gerade auch der Held des bios, der im ethischen Sinne zum Vorbild werden kann. Auf diese Weise gewinnt Burridge seine Leitidee, dass Jesus als Hauptfigur einer narrativen Biographie zum ethischen Motor neutestamentlicher Schriften werden kann. Es verwundert dann etwas, dass der Hauptteil nicht gleich mit dem »erzählten Jesus«, sondern wiederum mit dem ›historischen Jesus‹ – angesichts der im Zeitraum der Publikation lebendigen Diskussion zu ›Jesus remembered‹ umso bemerkenswerter – einsetzt, wobei Burridge erstaunlich unbeschwert »Jesus’ ethical teaching« (40–61) und »Jesus’ ethical example – his deeds« (62–78) zu umreißen versucht. Das Ergebnis dieses Abschnitts lautet, dass Jesus als »friend of sinners« beschrieben werden kann, was dann als Maßstab dient, auf den sich alle nachfolgenden Kapitel beziehen, indem die Erörterung jedes Evangeliums mit einem Abschnitt »Imitating Jesus, the friend of sinners« endet. Indem die vier Evangelien einem Pauluskapitel gegenüberstehen und weitere Briefe fehlen, wird die methodische Weichenstellung dann auch in einer selektiven Behandlung der kanonischen Quellen umgesetzt. »By undertaking such an ancient biographical reconstruction of Jesus’ words and deeds, we discovered that his rigorous and demanding teaching was actually set within a narrative of his open acceptance of those who responded to his preaching of the sovereign rule of God and, as a consequence, joined the inclusive community of those who were also seeking to follow and imitate his example as his disciples« (347). Burridge erkennt völlig zu Recht, dass der ethische Gehalt der neutestamentlichen Schriften nicht abgelöst von ihrer Sprachform und besonders auch Gattung gesehen werden darf .9 Gleichwohl gewinnt man den Eindruck, dass die Nachahmung Jesu auf bestimmte Aspekte (friend of sinners) beschränkt wird und z. B. die Heilungstätigkeit Jesu (trotz ihrer Anerkennung, 66) und der explizite Heilungsauftrag Jesu (siehe Mt 10,8) unberücksichtigt bleiben. Die Gewichtung und Auswahl, welche Aspekte imitiert werden sollen, unterliegt dann aber einem textexternen ethischen Wertesystem, das nicht eigens reflektiert wird. Auch methodisch hätte das Thema vielfältiger erschlossen werden können, indem etwa der in der Antike verbreitete Mimesis-Gedanke religionsgeschichtlich hätte eingebettet würde. Schließlich wird der Imitatio-Gedanke selbst bei der Konzentration auf »Imitating Jesus« nicht vollständig ethisch erschlossen, denn der Apostel Paulus etwa nennt sich selbst als Norm, die es hinsichtlich der eigenen Handlungen zu imitieren gelte (vgl. 1Kor 4,16 f.; 11,1; Phil 3,17).10

In dieser Hinsicht ist das Buch von Jason Hood, Imitating God in Christ (2013),11 weiterführend, der eine enge Verbindung, ja eine Entwicklung »from the imitation of God to the imitation of Jesus to the Imitation of the saints« (14) erkennt. »These three aspects of Imitation […] form the backbone of a biblical theology of imitation. They are an integral part of the biblical tapestry of humanity, discipleship and mission.« (Ebd.) Entsprechend wählt der Autor einen dreiteiligen – wenn auch ungleichgewichtigen – Aufbau des Buches, bei dem je ein Aspekt der Nachahmung (Part One: Imitating God, 19–57; Part Two: Imitating Jesus, 59–152, Part Three: Imitating the Saints, 153–180) im Zentrum steht. Für Hood sind die drei Dimensionen ineinander verwoben und bedingen sich wechselseitig: »The New Testament picks up the call to imitate the Fa-ther by showing us the Son. The Son displays the character of the Father in human form […] To the extent Jesus’ followers reflect his imitation of the Father, they are earthly mirrors of heavenly character, just as he mirrored the Father on earth as ›the image of the invisible God‹ (Col 1:15)« (151). Dabei ist es Jesus bzw. der Geist s elbst, der den Akt der Nachahmung ermöglicht: »By his Spirit, Jesus is now at work […] cloning12 a cross-shaped image, so to speak, in the humans in whom he lives. […] The result is a great deal of overlap in the imitation of the Father, the Son and the Saints« (ebd.). In einem abschließenden vierten Teil sowie in der Zusammenfassung werden Fragen nach gegenwärtigen Formen der Nachahmungspraxis und -theologie gestellt, aber m. E. nicht in aller Tiefe beantwortet. Die theologischen Implikationen einer zu Ende ge­dachten Imitatio-Theologie stellen Grundbekenntnisse der Chris­tologie und Soteriologie (z. B. das ἐφάπαξ, Hebr 9,12.26) radikal infrage, was in der Geschichte des Protestantismus immer wieder gesehen wurde.13 Unter ethischer Fragestellung birgt die Imitatio-Figur gleichwohl innovatives Potential für die Handlungsbegründung, über das in Richtung einer »mimetischen Ethik« weiter nachgedacht werden sollte.14

Zuletzt sei auf eine Arbeit von Brian Brock (Lecturer für »Moral and Practical Theology« an der University of Aberdeen, Schottland) verwiesen, Singing the Ethos of God (2007),15 der ebenfalls einen Brückenschlag zwischen Exegese und Ethik leisten möchte, denn »academic biblical scholars and Christian ethicists have been methodologically estranged for some decades« (XI). Der Autor möchte dieser Trennung entgegenwirken, indem er die übliche Frage nach der Rolle der Bibel im ethischen Diskurs umkehrt und nach dem Ort der Ethik innerhalb der Bibel fragt: »What is the place of Christian ethics within Scripture?« (XX) Die Arbeit gliedert sich in drei Hauptteile. Im ersten Teil, »Learning about Reading the Bibel for Ethics« (3–97), wird ein instruktiver und kritischer Forschungsüberblick über vollzogene Zuordnungen zwischen Bibel und Ethik gegeben. Etwas aus dem Rahmen dieser hier durchweg aktuellen Literatur fällt der letzte Abschnitt, in dem unter der Überschrift »Reading as Meditation: The Exegetical Theology Solution« die hermeneutische Praxis Dietrich Bonhoeffers insbesondere anhand der Psalmenexegese dargestellt wird. Brock nimmt diese Position vor allem auf, weil er damit schon seine eigene Position vorbereiten kann. In einem zweiten Hauptteil, »Listening to the Saints Encountering the Ethos of Scripture« (99–237), werden zuvor aber noch die hermeneutischen Arbeiten von Augustin und Luther dargestellt. Der dritte Teil unter der Überschrift »Singing the Ethos of God« (241–363) entfaltet dann den eigenen Zugang sowohl systematisch als auch exemplarisch an der Auslegung von Ps 130 und 104. Zu Ps 130 schreibt er: »Psalm 130 has led us into deeper reflec-tion on the role of prayer in the Christian life. This has yielded the discovery that prayer is an ethos. […] Praying contextualizes the whole of the Christian life in each of its moments, thus framing all choices about action. In this sense prayer is not a ›practice‹ but a Lebensraum, a space within which we can live« (301). Es stellt sich die Frage, ob diese Lebenskunst noch Ethik im reflexiven Sinne des Wortes darstellt oder ob hier gerade die Meta-Kommunikation zugunsten einer ästhetischen Lebenspraxis aufgegeben wird. Eine gewisse Zwischenstellung könnte mit dem Begriff einer »doxolo-gischen Ethik« gegeben sein, der die Rolle von Hymnen und Gebeten in der Lebenskunst ernst nimmt, aber das Textmedium selbst als Begründungsform wahrnimmt und reflektiert.

II Paulinische Ethik



Das nach wie vor meist beackerte Feld innerhalb der Ethik des Neuen Testaments stellen die Paulusbriefe dar. Da verwundert es eher, dass eine Arbeit von 1968 ca. 40 Jahre nach dem ersten Erscheinen noch einmal neu aufgelegt werden muss. Gleichwohl handelt es sich bei Victor Paul Furnishs Monographie Theology and Ethics in Paul (1968/2009)16 um einen Klassiker zum Thema im englischsprachigen Raum, der – so die Reihenherausgeber im Vorwort – hinsichtlich seiner Fragestellung auch in veränderten Kontexten (wie z. B. der ›New Perspective on Paul‹) nichts an Aktualität eingebüßt hat. Er verdiente auch im deutschsprachigen Feld mehr Beachtung, zumal sich Furnish im Gegenüber zu Bultmanns Indikativ-Imperativ-Modell für ein untrennbares Ineinander von Theologie und Ethik einsetzt: »The thesis […] from this investiga-tion is that the apostle’s ethical concerns are not secondary but radically integral to his basic theological convictions« (XVII; ferner 224–227: »These two dimensions of the gospel […] are closely and necessarily associated«, 224 f.). Diese »Theological Structure of The Ethics« (208) rechtfertige es, von einer »Pauline Ethic« (211) zu sprechen, die Furnish gleichwohl nicht in einer ausgearbeiteten ethischen Theorie oder einem »Code for Christian living« (212) sieht, sondern in »theological convictions which underlie Paul’s concrete exhortations and instructions« (ebd.). Furnish resümiert: »Paul’s ethic is radically and pervasively theological, eschatological, and Christological« (224). R. Hays empfiehlt in seinem lesenswerten, neu hinzugefügten Einführungsartikel (7–24), neben dem Klassiker von Furnish komplementär die Arbeit von David Horrell Solidarity and Difference (2005)17 zu lesen, die ähnliche Grundfragen mit mo­dernen sozialwissenschaftlichen Theorien zu beantworten sucht.

Horrell möchte aber nicht nur den Hiatus zwischen Theologie und Ethik, sondern zugleich die Kluft »between biblical studies and contemporary Christian ethics« (1) überwinden. Dies gelingt ihm, indem er explizit den Anschluss an gegenwärtige Ethiktheorie (Kapitel 2: The liberal-Communitarian Debate, 47–82) sucht, ohne aber zugleich detaillierte Textanalysen zu vernachlässigen (Kapitel 4–8). Ausgehend von sozialwissenschaftlichen Theorien zur Gruppenidentität (Berger/Luckmann) erkennt Horrell in und hinter den Paulusbriefen nicht nur ein »symbolic universe« (84), sondern ein Basisnarrativ bzw. einen Grundmythos: »The story of God’s saving act in Jesus Christ« (85). Dies führt zu folgender Leitthese: »Paul’s letters are to be seen as reflecting, and contributing to, a narrative myth which constructs a particular symbolic universe, giving meaning and order to the lives of those who inhabit it. The myth, enacted in ritual, is an identity- and community-forming narra-tive which shapes both the worldview (the ›is‹) and the ethos (the ›ought‹) of its adherents« (97 f.). Anhand gründlicher Textanalysen (mit Schwerpunkt 1Kor) arbeitet Horrell zwei »metanorms« der paulinischen Ethik heraus: » corporate solidarity with impulses towards egalitarianism« (274, ausführlich Kapitel 4) sowie »other-regard (which) holds together a number of values […] namely, love, love of neighbour, social humility, renunciation of status, etc.« (ebd., ausführlich Kapitel 6–7). Beide Leitnormen gründen in chris­tologischen Überzeugungen, derer sich die christliche Gemeinschaft sakramental-rituell vergewissert. »(The) metanorms […] de­termine the moral framework for the community, setting the parameters within which other ethical convictions can be articulated and practiced« (274). Eine luzide, zusammenfassende und interessante Ausblicke gebende Thesenreihe (Kapitel 9, 273–291) führt in den aktuellen Ethikdiskurs zurück, in dem die Ethik des Paulus oder präziser »our study of Pauline ethics« (280) nun als bewusste Mittelposition zwischen liberalen und kommunitaristischen Ethiken verortet wird.

Einen übergreifenden Anspruch verfolgt auch James Thompson (Professor of Biblical Studies at Abilene Christian University) mit seiner Monographie Moral Formation according to Paul (2011).18 Der Titel ist mit Bedacht gewählt, denn für Paulus sei der spirituelle und eschatologische Prozess des Glaubens nicht von einem ethischen zu trennen. »He (Paul) frequently employs the language of formation to describe the moral progress of the converts« (2). »Moral formation« kann für Thompson geradezu zum Synonym für Ethik werden: »Paul never uses the word ›ethics‹ but speaks instead of being transformed« (3). Nach Thompson ist die Ethik, genauer die »instructions for appropriate conduct […] neither the appendix nor the application of Paul’s theological discourse, but his primary concern« (ebd.). Es geht für Thompson hierbei nicht nur um die moralische Bildung des Einzelnen, sondern besonders auch der Gemeinschaft (Kapitel 2, 43: »Paul’s preaching resulted in the formation of communities«), wie beispielhaft an der korinthischen Gemeinde aufgezeigt wird. Obgleich bei der Durchführung des Programms in acht Kapiteln immer wieder einzelne Briefe im Zentrum stehen (so 1Thess in Kapitel 3), ist die Strukturierung nach Motiven und Themen doch dominant.

So werden Tugend- und Lasterkataloge (Kapitel 4), Gesetz (Kapitel 5 und 6) oder Liebe (Kapitel 7) untersucht. Methodisch ist Thompson an einer diachronen Einbettung paulinischer Weisungen gelegen, wozu grundlegend in Kapitel 1 der jüdisch-hellenistische Hintergrund entfaltet wird, in dem sowohl die Ethiken einzelner Schriften (Tobit, 4Makk, SapSal etc.) als auch zentrale Motive wie »piety (eusebeia), goodness (kalokagathia), and love for humanity (philantropia)« (39–41) benannt werden. Hilfreich sind ferner Tabellen zu einzelnen Motiven (z. B. Antisocial Offenses/Offenders, 92 f.), bei denen das ganze Corpus Paulinum (einschließlich Eph, Kol, Past) einbezogen wird. Thompsons Darstellung ist von der These geleitet, dass die Paulusbriefe nicht nur eine »ad-hoc-response to the crises in his communities« (207) abbilden, sondern dass auch eine »logic of his moral instructions« (7), »[a] coherent vision of the formation of his converts« (207), mit anderen Worten: eine übergreifende Ethik zu erkennen ist.

Während die kleine Monographie von Thompson auf nur 256 Seiten viele Fragen nur anreißen kann, widmen sich andere Arbeiten speziellen Aspekten der paulinischen Ethik im Detail. Hier ist zunächst zum Bereich ›Sexualethik‹ die zweite Auflage der Dissertation (Chicago, bei Betz) von Will Deming, Paul on Marriage and Celibacy (2004),19 zu nennen. Die Neuauflage ist gegenüber der ersten Fassung abgesehen von Fehlerkorrekturen und Literaturergänzungen vor allem durch Appendizes erweitert: Die Quellentexte von Antipater von Tarsos (On Marriage/Über die Ehe) sowie von Ocellus Lucanus (On the Nature of the Universe [Spurious] 43b–51) wurden im griechischen Text und in erstmaliger vollständiger englischer Übersetzung (Appendizes 1 und 2, 221–237) beigefügt.

Ausgangs- und Zielpunkt der Rückfrage nach den Anfängen von Sexualaskese und Zölibat stellt das 7. Kapitel des 1. Korintherbriefes dar. Deming stellt hierzu die Hypothese auf, dass das Kapitel am besten verstanden werden könne, wenn man es vor dem Hintergrund der stoisch-kynischen Philosophie lese (43). Im zweiten Kapitel (47–104) gibt Deming dann einen informativen Einblick in den antiken philosophischen Ehediskurs vom 2. Jh. v. bis zum 1. Jh. n. Chr. (insbesondere Texte von Antipater von Tarsos, Ocellus Lucanus, kynische Briefe, Arius und Cicero, sowie Seneca, Musonius Rufus, Quintilian, Theon, Dio Chrysostomos, Hierocles dem Stoiker und Epiktet). Wie vor diesem Hintergrund 1Kor 7 zu verstehen ist, wird in Kapitel 3 (105–206) vorgeführt. Dass der referierte philosophische Diskurs – wie Deming zu Recht resümiert – keine Hinweise auf den Zölibat erkennen lasse, hätte ihn jedoch nicht zu der Schlussfolgerung verleiten lassen sollen, dass sexualasketische Tendenzen grundsätzlich in dieser Zeit nicht vorhanden waren. »As a way of life or a primary task of religion, sexual ascetism is hardly mentioned in Greco-Roman or Jewish sources before the second century C. E.« (XV) Es zeigt sich vielmehr eine Fülle von sexualasketischen Tendenzen mit unterschiedlichen Begründungen im hellenistisch-römischen wie auch im jüdischen Bereich.20 Das Verdienst der Arbeit liegt zweifellos in der Eröffnung eines breiten religionsgeschichtlichen Horizonts, der die ethische Be­gründung von 1Kor 7 besser verstehen hilft. In der Schwebe bleibt jedoch, ob Deming auch glaubt, dass dieses religionsgeschichtliche Arbeiten frei von gegenwärtigen Begründungsinteressen, also quasi objektiv-historisch sei. Für den hermeneutisch sensiblen Leser wird im Schlusskapitel zumindest deutlich, dass es Deming gera-de auch darum geht, Paulus gegenüber einer sexualfeindlichen Wirkungsgeschichte zu verteidigen und ihn aus der späteren Ge­schichte des Zölibats herauszuhalten (»Paul should be placed be­fore and outside of this history, not within it as one of its founders«, 208).

Die ethische Dimension der Studie von André Munzinger, Discerning the Spirits (2007),21 besteht darin, dass der aus 1Kor 12,10 (Unterscheidung der Geister) bzw. Röm 12,2 (Prüfung des Willens Gottes) gewonnene Leitbegriff des »Discernment« nach Munzinger ins Zentrum der Ethik führt, da es auch in der Ethik um die Prüfung von Normen und Verhaltensalternativen gehe. Durch die christologische Neukonstitution der Existenz (»The Christ-event serves as the basis for a completely new Lebensraum, a new beginning«, 33) verlieren externe Normen (wie die Tora) an Bedeutung; stattdessen gilt: » the locus of normativity is in the renewed mind« (35). Damit wird »discernment« zugleich »anthropologically centred« (44). Ethisches und spirituelles Urteilsvermögen dürfen hierbei aber nicht getrennt werden, wie der Autor an 1Kor 12,10 (Kapitel 3) erläutert. Die Studie stellt eine zweifellos anregende Arbeit zur Epistemologie und Anthropologie dar, die eine Fülle von Sekundärliteratur verarbeitet. Ob allerdings ein zusammengehöriges Konzept »ethical and spiritual discernment« berechtigtermaßen aus den Quellen abgeleitet werden kann, ist m. E. schon aufgrund des lexikalischen Befunds fraglich, da die Wortfelder δοκιμάζω (Röm 12,2) und διάκρισις (1Kor 12,10) nur im Englischen im Begriff »discern« zusammenfließen. Doch in einer Beobachtung konvergiert Munzinger mit vielen anderen Beiträgen: »Ethics is not an addendum to salvation but an inherent part of what the Christ-event means« (32; besonders auch Kapitel 4).

Verbleibt Munzinger auf der ›epistemologischen‹ Ebene von Erkenntnis und Urteilsvermögen, so geht es Volker Rabens bei seiner wenig später bei demselben Doktorvater (Max Turner, London) entstandenen Dissertation The Holy Spirit and Ethics in Paul (2007)22 um die Frage, was die Glaubenden nach Ansicht des Apostels befähigt, evangeliumsgemäß zu leben. Wie der Titel schon anzeigt, kommt nach Rabens dem Heiligen Geist die zentrale Rolle zu. Gegenüber früheren pneumatologischen Begründungen der Ethik bleibt es bei Rabens aber nicht bei einem vagen theolo-gischen Bekenntnis; vielmehr betrachtet er den Prozess, wie der Geist die Glaubenden »transforms and empowers […] for religious-ethical living« (245). In Auseinandersetzung mit jüdischen und hellenistischen Geistkonzepten kommt Rabens zu der Auffassung, dass Paulus deutlich von einer stoischen Vorstellung einer »infus-ion-transformation« (Kapitel 3, 80–120) differiert und stattdessen auf der Basis eines integrativen Beziehungsmodells zu verstehen sei (Kapitel 4, 123–145). »We have argued that the experience of intimate relationships transforms people both in their being as well as empowering them for moral conduct« (246), wobei die Seinsveränderung durchaus substantiell gedacht werden dürfe. Da sich die zweite Auflage bis auf ein vierseitiges Vorwort nicht von der 1. Auflage unterscheidet, bedarf es hier keiner weiteren Detailerörterung.23 In ethischer Hinsicht gelingt es Rabens, die pneumatologische Handlungsbegründung präziser zu beschreiben, er verbleibt damit aber innerhalb theologischer Binnendiskurse und sucht keinen Anschluss an die Ethiktheorie.

Ähnliches gilt auch für die neue Arbeit von Brian Rosner zum viel umkämpften Thema Paul and the Law (2013).24 In ethischer Hinsicht ist die Arbeit gleichwohl interessant, weil sie die alte Frage, ob die Tora für die Ethik des Paulus eine Rolle spielt, eindeutig mit »Ja« beantwortet. Anknüpfend an frühere Arbeiten25 weist Rosner zwar traditionell ethische Applikationen der Tora (»Not under the law«, Kapitel 2; »Not walking according to the law«, Kapitel 3) zurück, plädiert allerdings für ein weisheitliches Verständnis im Sinne der Psalmen. »Rather than reading the law as law, Paul reads it as wisdom for living, in the sense that he has internalized the law, makes reflective and expansive applications, and takes careful no-tice of its basis in the order of creation and the character of God« (204). In einem Schlusskapitel stellt sich Rosner der Frage nach der gegenwärtigen Konsequenz seiner Einsichten. Sein Ergebnis ist wenig aufregend: »The notion that Paul read the law as prophecy of the gospel and teaching for Christian conduct fits well with the normal Christian experience of reading the Pentateuch. […] Chris­tians typically read the law as pointing in one way or another to the person and work of Christ and as providing guidance for everyday life. These two impulses correspond to prophecy and wisdom respectively« (219).

III Bibel und Ethik im Dialog



Waren auch in den bisher genannten Arbeiten immer wieder Fragen der gegenwärtigen Applikation bzw. der Möglichkeiten und Grenzen neutestamentlicher Ethik für den gegenwärtigen ethischen Diskurs angesprochen worden,26 so werden in einigen Arbeiten derartige Brückenschläge auch ins Zentrum gerückt.

Zu nennen sind hier die beiden Bände der Jesuiten Daniel Harrington und James Keenan: Jesus/Paul and Virtue Ethics (2002/ 2010),27 die, wie der Untertitel besagt, Brücken zwischen neutestamentlicher und moraltheologischer Wissenschaft bauen möchten und dabei besonders den Tugendbegriff in den Mittelpunkt stellen. Tugendethik wird hierbei im weiteren Sinne als eine Ethik verstanden, die die Person des Handelnden und nicht einzelne Taten ins Zentrum rückt und auf die zentralen Basisfragen antwortet: »Who are we? Who ought we to become? And how are we to get there?« (3) Der hier näher zu besprechende Paulusband besteht aus vier Teilen und 22 Unterkapiteln. In Teil I (3–72) wird im Zwiegespräch zwischen Moralphilosophie und Paulusbriefen »the shape of Christian Virtue Ethics« grundgelegt, in Teil II (73–106) werden die drei »theologischen Tugenden« »faith«, »love or charity« und »hope« reflektiert, und zwar jeweils aus der Perspektive von Paulus und von Thomas von Aquin. In Teil III (107–159) werden Tugend- und Lasterkataloge sowie Gemeinschaftsfragen bis hin zur Eucharistie untersucht, bevor in Teil IV (161–210) besonders sexualethische Fragen behandelt werden. Die einzelnen Ausführungen lesen die neutestamentlichen Texte detailliert und verorten sie in ihren historischen Kontexten. Gleichwohl wagen sie auch Übergänge und An­gebote für den ethischen Gegenwartsdiskurs.

Um ein Beispiel zu nennen: In der Erörterung der ethischen Bewertung der Geistesgaben in 1Kor 12–14 arbeitet Harrington28 vier eher formale Kriterien (»conformity with the gospel«, »potential for building up the body of Christ«, »love as the primary motive« und »public perception«) heraus, die »can easily be transferred to the context of communal moral decision making« (137). Man mag kritisieren, dass der Tugendbegriff überhaupt für die Paulusbriefe in einen so zentralen Rang erhoben wird, nicht nur, weil der griechische Begriff ἀρετή bekanntlich nur in Phil 4,8 verwendet wird.29 Indem unter gleichen bzw. ähnlichen Überschriften jeweils zwei Perspektiven aus Sicht des Neutestamentlers und aus Sicht des Moraltheologen gegeben werden, gelingt jedoch zweifellos der von den Autoren intendierte »heuristic probe – an effort at stimulating discovery and dialogue« (XII), ohne die notwendige Präzision und Expertise der jeweiligen Ausführungen vermissen zu lassen.

Ein nicht minder interessantes Projekt stellen zwei Bücher zur biblisch begründeten Umweltethik dar. Durch die Förderung des »Arts and Humanities Research Council of the UK« wurde den in Exeter/GB lehrenden Theologen David Horrell, Cherryl Hunt und Christopher Southgate eine ökotheologische Pauluslektüre ermöglicht, die nun in Greening Paul (2010)30 veröffentlicht wurde. Anregend ist das in Kapitel 2 wohlreflektierte hermeneutische Prinzip, mit dem die Paulustexte für gegenwärtige Ethikdiskurse erschlossen werden sollen: »We adopt a self-consciously constructive and creative approach, recognizing that we are reading Paul in the light of our own context and priorities, making new meaning from the texts, but seeking to do so in a way that is in demonstrable con-tinuity with the Pauline material and is thus potentially per-suasive as a faithful form of Christian Theology« (4).

Es folgt in Kapitel 3 die Explikation eines narrativen Rahmens (»implied narrative substructures of key Pauline texts« 57), der als Schöpfungserzählung im weiteren Sinn bestimmt wird. Vor diesem Hintergrund werden dann zentrale Textpassagen (Röm 8,19–23; Kol 1,15–20) analysiert und verglichen, die wiederum zu einem »ecologically motivated rereading of Paul’s letters more generally« führen. »Cosmic reconciliation can stand at the center of an eco-logical Pauline theology, and such a theology will be profoundly an inescapably eschatological.« (5, vgl. 166–180) In Kapitel 8 werden die von Horrell früher benannten Metanormen (s. o.) hinsichtlich ihres ökologischen Potentials geprüft (190–194): Aus der Norm des »other-regard« kann auch eine Achtsamkeit gegenüber der nicht-menschlichen Lebensgemeinschaft erwachsen; aus der »corporate solidarity« kann eine Einbeziehung aller Dinge folgen. Die Autoren scheuen auch vor der Diskussion konkreter Applikationsfelder (Vegetarismus als »anticipation of the peaceable kingdom«, 202–206, sowie Artenschutz als »reducing extinction as an eschatological task«, 206–210) nicht zurück, betonen aber zugleich, »that the move […] from the Pauline material to the specifics of policies and actions is a complex and uncertain one in which we need all the resources of science and contemporary ethics to guide and inform our reflections« (220). In der methodisch kontrollierten und reflektierten Weise, wie dies hier vollzogen wird, stellt das Projekt jedoch ein gelungenes Beispiel für den Dialog zwischen Bibelwissenschaft und Ethik dar und intendiert »to offer an example of the ways in which the biblical texts may be read and appropriated from a theologically, ethically, and scientifically informed perspective« (6).

Die anhand der ethischen Lektüre von Paulustexten exemplarisch gewonnene ökologische Hermeneutik wird durch David Horrell in einer parallelen Publikation: The Bible and the Environment (2010),31 sowohl methodologisch vertieft (Teil I) als auch hinsichtlich der Textbasis auf den ganzen Kanon ausgeweitet (Teil II: Genesis, Psalmen, Evangelien, Paulus, Apk). Im dritten Abschnitt werden »Proposals for an Ecological Hermeneutic« dargeboten, die aber als »ways in which a creative and constructive engagement with the biblical texts might proceed« auch über die Ökologie hinaus als Anregung für den Dialog zwischen Bibelwissenschaft und Ethik dienen können. Hierbei können Basisnarrative, Leitnormen und nicht zuletzt bestimmte religiöse Sprachformen wie (Psalm-)Gebet und Vision richtungweisend sein.

IV Fazit und Desiderate



Die monographische Ausarbeitung einer ethischen Lektüre der kanonischen Texte zu einer »Ethik des Neuen Testaments« ist ein dringliches Desiderat. Die zweifellos notwendige differenzierte Wahrnehmung einzelner neutestamentlicher Schriften in ihrer Eigenheit und ihren Entstehungskontexten hat dazu geführt, dass der Blick für das Ganze und damit auch die Rezipierbarkeit für den ethischen Diskurs bisweilen verloren gehen. Damit geht zugleich ein Defizit hermeneutischer Reflexion hinsichtlich der Relevanzfrage einher. Die Frage nach der neutestamentlichen Ethik, d. h. die reflexive Durchdringung von Handlungsentscheidungen hinsichtlich ihrer leitenden Normen mit dem Ziel der Bewertung,32 steht immer schon in einem erkenntnisleitenden Kontext und kann nicht rein historisch oder gar objektiv gestellt werden.

Die englischsprachigen Werke sind hier ehrlicher als viele deutschsprachige Publikationen. Sie zeigen neben klassisch histo-rischen (z. B. religionsvergleichenden bei Deming) oder theologischen Zugängen (z. B. bezüglich der Rolle des Geistes bei Rabens) auch innovative methodische Versuche, wie etwa mit sozialwissenschaftlichen Theorien (z. B. Horrell zur corporate solidarity) oder sprachmedial-performativen Ansätzen (z. B. Hymnus bei Brock) oder mit der Ethik-Theorie (z. B. Tugendbegriff bei Harrington/ Keenes) Brückenschläge zwischen antiken Texten und dem gegenwärtigen Ethikdiskurs vollzogen werden können. Gleichwohl bleiben sie hinsichtlich des Begriffsgebrauchs (selbst bei Leitbegriffen wie »ethics«, »virtue«) wie auch hinsichtlich einer differenzierten Hermeneutik der Interaktion zwischen biblischer und gegenwärtiger Ethik doch auch eine Problemanzeige für weiteren Forschungsbedarf.

Hier muss sich die neutestamentliche Wissenschaft nach wie vor die Anfrage von Gustafson gefallen lassen: »[…] denen, die Spezialisten in den biblischen Wissenschaften sind, fehlt es oft an der Ausgebildetheit des ethischen Denkens«.33 Interdisziplinärer Dialog bleibt somit eine zum Teil mühsame Herausforderung, aber nur so wird es gelingen, die Ethik neutestamentlicher Texte für den gegenwärtigen ethischen Diskurs bleibend erschließen zu können.

Fussnoten:

1) Die Klage über eine durch Spezialistentum auf beiden Seiten bedingte Kommunikationsunfähigkeit von J. M. Gustafson, Der Ort der Schrift in der christlichen Ethik. Eine methodologische Studie, übers. v. R. Hütter, in: H. G. Ulrich (Hrsg.), Evangelische Ethik. Diskussionsbeiträge zu ihrer Grundlegung und ihren Aufgaben, ThB 83, München 1990, 246–279, hier: 246, kann im Jahr 2013 verschärft wiederholt werden. Die Schwierigkeiten eines solchen Dialogs werden eindrucksvoll dokumentiert in der Debatte zwischen dem Neutestamentler Peter Wick und dem Ethiker Johannes Fischer, in: ZEE 53 (2009), 34–45.46–48.198–203.204–208. Annäherungsversuche von beiden Seiten bilden etwa die Sammelbände von M. Hofheinz, F. Mathwig, M. Zeindler (Hrsg.), Wie kommt die Bibel in die Ethik? Beiträge zu einer Grundfrage theologischer Ethik. FS W. Lienemann, Zürich 2011, sowie F. W. Horn, U. Volp, R. Zimmermann (Hrsg.), Ethische Normen des frühen Christentums. Gut – Leben – Leib – Tugend, WUNT 313, Tübingen 2013.
2) Vgl. J. Fischer, Evangelische Ethik und Kasuistik. Erwiderung auf Peter Wicks Beitrag, ZEE 53 (2009), 46–48, hier: 46.
3) W. A. Meeks, The Origins of Christian Morality. The First Two Centuries. New Haven/London 1993; R. B. Hays, The Moral Vision of the New Testament: Community, Cross, New Creation. A Contemporary Introduction to New Testament Ethics, San Francisco, CA: Harper 1996; die Monographie von F. Matera, New Testament Ethics. The Legacies of Jesus and Paul. Louisville: Westminster Knox Press 1996, befasst sich anders als der Titel verheißt nur mit Jesus bzw. Evangelien und Paulus.
4) Starr, James and Troels Engberg-Pedersen (Eds.), Early Christian Paraenesis in Context, BZNW 125, Berlin u. a.: De Gruyter 2004, VII, 616 S. Vgl. dazu die Rezension von O. Wischmeyer in ThLZ 130 [2005], 1335.
5) Watt, Jan G. van der [Ed.]: Identity, Ethics, and Ethos in the New Testament. Assisted by F. S. Malan. Berlin u. a.: De Gruyter 2006. XIII, 645 S. = Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche, 141. Geb. EUR 199,95. ISBN 978-3-11-018973-5.
6) Green, Joel B. [Ed.]: The New Testament and Ethics. A Book-by-Book Survey. Grand Rapids: Baker Academic 2013. XVI, 158 S. Kart. US$ 19,99. ISBN 978-0-80104936-1.
7) Burridge, Richard A.: Imitating Jesus. An Inclusive Approach to New Testament Ethics. Grand Rapids u. a.: Wm. B. Eerdmans 2007. XXII, 490 S. Geb. US$ 36,00. ISBN 978-0-8028-4458-3.
8) Vgl. R. Burridge, What are the Gospels? A Companion with Graeco-Roman Biography, SNTS.MS 70, Cambridge 1992.
9) Vgl. auch seinen Beitrag: R. Burridge, Ethics and Genre: The Narrative Setting of Moral Language in the New Testament, in: R. Zimmermann/J. G. van der Watt (Eds.), Moral Language in the New Testament. The Interrelatedness of Language and Ethics in Early Christian Writings, WUNT II/296, Tübingen 2010, 383–396.
10) Vgl. hierzu bereits die instruktiven Ausführungen in Furnish, Theology and Ethics (dazu unten), 218–224.
11) Hood, Jason B.: Imitating God in Christ. Recapturing a Biblical Pattern. Downers Grove: InterVarsity Press 2013. 232 S. = IVP Academic. Kart. US$ 22,00. ISBN 978-0-8308-2710-7.
12) Cornelis Bennema spricht sich hier für eine größere Trennschärfe im Begriffsgebrauch aus und möchte »cloning« von der biblischen Mimesis unterschieden wissen, vgl. C. Bennema, Mimesis in John 13: Cloning or Creative Articulation? NovT 2014 (im Erscheinen).
13) Vgl. etwa R. Hays, Response to Richard Burridge’s Imitating Jesus, in: Scottish Journal of Theology 63 (2010), 331–335.
14) Vgl. dazu das Thema von Mainz Moral Meeting Nr. 7, dessen Vorträge in F. Horn/U. Volp/R. Zimmermann (Hrsg.), Formen der Ethikbegründung. Metaphorische – Narrative – Mimetische – Doxologische Ethik, Tübingen: Mohr Siebeck 2014, publiziert werden.
15) Brock, Brian: Singing the Ethos of God. On the Place of Christian Ethics in Scripture. Grand Rapids u. a.: Wm. B. Eerdmanns 2007. XXI, 386 S. Kart. US$ 35,00. ISBN 978-0-8028-0379-5.
16) Furnish, Victor Paul: Theology and Ethics in Paul. New Introduction by R. B. Hays. Louisville: Westminster Knox Press 2009 (1. Aufl. 1968). XIX, 300 S. = New Testament Library. Kart. US$ 40,00. ISBN 978-0-66423336-5.
17) Horrell, David G.: Solidarity and Difference. A Contemporary Reading of Paul’s Ethics. London u. a.: T & T Clark International (Bloomsbury) 2005. XVI, 339 S. Kart. US$ 70,00. ISBN 978-0-567-04322-1.
18) Thompson, James W.: Moral Formation according to Paul. The Context and Coherence of Pauline Ethics. Grand Rapids: Baker Academic 2011. XV, 256 S. Kart. ISBN978-0-80103902-7.
19) Deming, Will H.: Paul on Marriage and Celibacy. The Hellenistic Background of 1 Corinthians 7. With a Foreword by R. F. Collins. Second Edition. Grand Rapids u. a.: Wm. B. Eerdmans 2004. XXII, 271 S. Kart. US$ 31,50. ISBN 978-0-8028-3989-3.
20) Vgl. etwa R. Zimmermann, Exkurs: Ehelosigkeit und Sexualaskese in hellenistisch-römischer Zeit, in: Ders., Geschlechtermetaphorik und Gottesverhältnis, WUNT II/122, Tübingen 2001, 531–537.
21) Munzinger, André: Discerning the Spirits. Theological and Ethical Hermeneutics in Paul. Cambridge: Cambridge University Press 2007. XVI, 239 S. = Society for New Testament Studies Monograph Series, 140. Geb. £ 50,00. ISBN 978-0-521-87594-3.
22) Rabens, Volker: The Holy Spirit and Ethics in Paul. Transformation and Empowering for Religious-Ethical Life. 2., rev. Aufl. Tübingen: Mohr Siebeck 2013. XX, 378 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 283. Kart. EUR 74,00. ISBN 978-3-16-152787-6.
23) Vgl. dazu F. Blischke, Rezension zu V. Rabens, The Holy Spirit and Ethics in Paul, 1. Aufl. 2010, ThLZ 137 (2012), 680–682.
24) Rosner, Brian S.: Paul and the Law. Keeping the Commandments of God. Downers Grove: InterVarsity Press 2013. 249 S. = New Studies in Biblical Theology, 31. Kart. US$ 24,00. ISBN 978-0-8308-2632-2.
25) B. Rosner, Paul, Scripture and Ethics. A Study of 1 Corinthians 5–7, Grand Rapids 1999 (zuerst Leiden 1994).
26) Vgl. etwa den Artikel von C. H. Cosgrove, Scripture in Christian Ethics, in: Green (Ed..), The New Testament and Ethics, 10–32; s. auch R. Burridge, chapter VIII: Apartheid: An Ethical and Generic Challenge to Reading the New Testament, in: Ders., Imitating Jesus, 347–409; J. B. Hood, Part Four: Imitation Yesterday and Today, in: Ders., Imitating God in Christ, 183–208.
27) Harrington, Daniel J., SJ, und James F. Keenan, SJ.: Jesus and Virtue Ethics. Building Bridges between New Testament Studies and Moral Theology. Lanham, MD: Sheed & Ward 2002. XV. 216 S.; Harrington, Daniel J., and James F. Keenan: Paul and Virtue Ethics. Building Bridges between New Testament Studies and Moral Theology. Lanham: University of America Press (Rowman & Littlefield) 2010. XIII, 290 S. Geb. US$ 40,00. ISBN 978-0-7425-9959-8.
28) Die Autoren geben im Vorwort explizit an, wer der »principle writer« der jeweiligen Kapitel war, siehe a. a. O., XIII.
29) Vgl. hierzu F. W. Horn, Paulus und die Kardinaltugenden, in: P.-G. Klumbies, D. du Toit (Hrsg.), Paulus – Werk und Wirkung. FS A. Lindemann, WUNT, Tübingen: Mohr Siebeck 2013, 351–369, sowie ders., Tugend als ethische Norm in Antike und Christentum. Tugend und Tugendbegriff in griechisch-hellenistischer Philosophie, biblischer, jüdischer und frühchristlicher Theologie, in: Horn/Volp/Zimmermann (Hrsg.), Ethische Normen, 385–388.
30) Horrell, David G., Hunt, Cherryl, and Christopher Southgate: Greening Paul. Rereading the Apostle in A Time of Ecological Crisis. Waco: Baylor University Press 2010. IX, 333 S. Kart. US$ 34,95. ISBN 978-1-60258290-3.
31) Horrell, David G.: The Bible and the Environment. Towards a Critical Ecological Biblical Theology. Durham: Acumen Publishing 2010. X, 161 S. = Biblical Challenges in the Contemporary World. Kart. £ 17,99. ISBN 978-1-84465746-9.
32) Vgl. zu dieser Definition R. Zimmermann, Pluralistische Ethikbegründung und Normenanalyse im Horizont einer ›impliziten Ethik‹ frühchristlicher Schriften, in: F. W. Horn/U. Volp/R. Zimmermann (Hrsg.), Ethische Normen des frühen Christentums. Gut – Leben – Leib – Tugend, WUNT 313, Tübingen 2013, 3–27.
33) Gustafson, Ethik, 246.