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Ausgabe:

Mai/2014

Spalte:

571-574

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Wöhrle, Jakob

Titel/Untertitel:

Fremdlinge im eigenen Land. Zur Entstehung und Intention der priesterlichen Passagen der Vätergeschichte.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012. 245 S. = Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments, 246. Geb. EUR 79,99. ISBN 978-3-525-53546-2.

Rezensent:

Christoph Berner

Die Studie ist im Rahmen des von Jakob Wöhrle gemeinsam mit Rainer Albertz geleiteten Teilprojekts »Distinktion und Integration in der Gründungsurkunde Israels« am Münsteraner Exzellenzcluster »Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und Moderne« entstanden und bietet eine neue literargeschichtliche Analyse und Interpretation der priesterlichen Passagen der Vätergeschichte. Die Darstellung ist klar strukturiert und durch zahlreiche Textübersichten leserfreundlich gestaltet. Kurze Ergebnisabschnitte zu den jeweiligen Unterkapiteln erleichtern die Orientierung. Der Studie ist ein Stellenregister beigegeben.
Im ersten Kapitel (Einleitung) führt W. zunächst in der gebotenen Kürze in den Gegenstand der Studie ein und nimmt eine forschungsgeschichtliche Standortbestimmung vor. Als größtes Defizit in der kontrovers geführten Debatte um den literarischen Charakter der Priesterschrift im Pentateuch (Quelle oder Redaktionsschicht) und die weiteren hiermit verbundenen Fragen beurteilt er, dass zu oft ausgehend von globalen Beobachtungen argumentiert werde, während detaillierte Untersuchungen der priesterlichen Passagen unter Berücksichtigung ihres nichtpriesterlichen Kontextes insgesamt deutlich zu kurz kämen (23). Diese Defizite will die vorliegende Studie zu beheben helfen, wobei die vorgenommene Beschränkung auf die Vätergeschichte (d. h. einen Kernbereich in Gen 12–50) eine dreifache Begründung findet: So seien erstens die angrenzenden Bereiche des Pentateuch (Gen 1–11; Ex 1 ff.) durch mehrere aktuelle Studien abgedeckt, zweitens sei die Vätergeschichte aufgrund der vor allem hier zu beobachtenden Lückenhaftigkeit des priesterlichen Textes besonders interessant und werde drittens »auch auf inhaltlicher Ebene gerne vernachlässigt« (24).
Der Schwerpunkt der Arbeit liegt auf der literargeschichtlichen Analyse im zweiten Kapitel (Zur Entstehung der priesterlichen Passagen der Vätergeschichte). Beginnend mit der Überleitung zwischen Ur- und Vätergeschichte in Gen 11,27–32 untersucht W. systematisch alle priesterlichen Passagen in den Abrahamerzählungen (Gen 12–25), in den Jakoberzählungen (Gen 25–36) und in der Josephsgeschichte (Gen 37–50), letztere unter ausführlicher Berücksichtigung des Übergangs zum Exodusbuch in Ex 1. Dem in der Einleitung benannten forschungsgeschichtlichen Desiderat entsprechend wird dabei jeweils auch der unmittelbare nichtpriesterliche Kontext in die Betrachtung mit einbezogen. Das Ergebnis ist eindeutig: »Aus den […] priesterlichen Passagen der Vätergeschichte lässt sich kein durchlaufender Erzählfaden rekonstruieren. Zudem sind die priesterlichen Texte häufig und teils sehr deutlich auf ihren nichtpriesterlichen Kontext bezogen. Die pries­terlichen Passagen der Vätergeschichte sind daher nicht, wie häufig angenommen, als Teil einer unabhängig überlieferten Quelle zu verstehen. Es handelt sich vielmehr um eine für den Kontext der nichtpriesterlichen Vätergeschichte verfasste Bearbeitungsschicht.« (163 f.)
Es ist das große Verdienst der Studie von W., diesen Sachverhalt in aller Klarheit herausgestellt und das Gezwungene aller Versuche vor Augen geführt zu haben, in Gen 12–50 einen durchlaufenden priesterlichen Quellenfaden zu rekonstruieren. Gleichwohl müssen sich die von W. vorgelegten Analysen in mancher Hinsicht auch kritische Anfragen gefallen lassen. Skeptisch stimmt etwa der Optimismus, mit dem weite Teile des nichtpriesterlichen Textes für ein vorpriesterliches Entwicklungsstadium veranschlagt werden. Das auf dieser Grundlage entworfene Gesamtbild, demzufolge die priesterliche Bearbeitung als letzte substanzielle und formative Phase in der Genese von Gen 12–50 gelten muss, schließt m. E. vorschnell die gerade in der jüngeren redaktionsgeschichtlichen Forschung vermehrt gesehene Möglichkeit umfangreicher nachpriesterlicher Erweiterungen aus, die sich ja mit der Auffassung der Priesterschrift als einer Bearbeitung ohne Weiteres verbinden ließe.
Ähnlich gelagerte Bedenken stellen sich schließlich aber auch mit Blick auf die Behandlung des priesterlichen Textes selbst. An einigen Stellen hebt W. im Gefolge der älteren Forschung nachträgliche Erweiterungen des priesterlichen Textes ab und betrachtet etwa – mit gutem Grund! – die Beschneidung in Gen 17,9–14 und den Kauf der Grablege in Gen 23,3–20 als nach- bzw. spätpriesterliche Zuwächse. Der Großteil des priesterlichen Textes gilt dagegen trotz der in der Forschung auch hier diskutierten literarkritischen Scheidungen als einheitlich, ohne dass dies immer eigens begründet würde. Im Fall des priesterlichen Schlüsselkapitels Gen 17 etwa wird nicht einmal die Frage gestellt, ob der nach Ab-hebung der Beschneidung verbleibende Bestand in 17,1–8.15–22 literarisch einheitlich ist, obwohl die betreffenden Partien eine Reihe von Spannungen aufweisen, die eine Erklärung verdienen. Da W. diesen Fragen nicht weiter nachgeht und den priesterlichen Text tendenziell für einheitlich hält, vergibt er die Möglichkeit, weitere spätpriesterliche Partien zu identifizieren und so zu einem differenzierteren Bild der priesterlichen Literaturgeschichte vorzustoßen.
Der priesterlichen Bearbeitung in der Vätergeschichte kommt nach Ansicht von W. eine Schlüsselfunktion in der Formierung des Pentateuch insgesamt zu, denn es sei der priesterliche Bearbeiter gewesen, der erstmals eine literarische Verbindung zwischen den vordem selbstständigen Werkzusammenhängen der Vätergeschichte und der Exoduserzählung hergestellt habe. Im selben Zuge sei auch die zuvor ebenfalls unabhängig umlaufende Josephsgeschichte in die neu geschaffene Großkomposition eingebunden worden. Die priesterliche Bearbeitung übernimmt damit letztlich weitgehend die Funktion, die im Horizont der Urkundenhypothese der Endredaktion zugemessen wird.
Entscheidend für das von W. vorgelegte Modell ist nun, dass diese Funktion des priesterlichen Textes nur für die Vätergeschichte und den Übergang zur Exoduserzählung angenommen wird. In der Urgeschichte (Gen 1–11) sowie in der Exoduserzählung (ab Ex 6) sei der Befund indes grundsätzlich anders zu beurteilen, denn die in beiden Bereichen auftretenden erzählerischen Dubletten zwischen priesterlichem und nichtpriesterlichem Text (Schöpfung/ Sintflut/Plagen/Meerwunder) sowie die Existenz vereinzelter, zwischen den unterschiedlichen Darstellungen vermittelnder Zusätze deuteten darauf hin, dass hier zwei ehemals eigenständige Erzählstränge durch eine dritte Hand redaktionell zusammengearbeitet worden seien.
Den Nachweis dafür, dass der priesterliche Text in Urgeschichte und Exoduserzählung anders als in der Vätergeschichte nicht als Bearbeitung, sondern als Quelle zu betrachten sei, führt W. im Rahmen eines 14-seitigen Ausblicks. Dabei konzentriert er sich vor allem auf die priesterlichen Partien am Anfang des Exodusbuches, für deren Deutung er eine neue Lösung vorlegt. So habe der priesterliche Bearbeiter in Gen 50,22; Ex 1,6a.7 zunächst ein redaktionel-les Scharnier zwischen dem Ende der Josephsgeschichte und dem Beginn der Exoduserzählung geschaffen. Daraufhin habe er »die in Ex 1–2*; 4,19.20a belegte nichtpriesterliche Erzählung von der Be­ drückung in Ägypten, der Geburt und Jugend des Mose, seiner Flucht nach Midian und seiner Rückkehr nach Ägypten aufgenommen. Diese vorgegebene nichtpriesterliche Überlieferung [habe er] dann nach 4,19.20a abgebrochen und ab dem hieran angeschlossenen Textbereich 6,2–8, also ab der priesterlichen Version der Mose-Berufung, eigenständig weiterformuliert« (157), und zwar bis Ex 29,45–46, wo W. im Anschluss an Eckart Otto den ältesten Abschluss der Priesterschrift findet (159).
Die von W. präsentierte Neudeutung der priesterlichen Partien des Exodusbuches als gleichermaßen redaktionell (bis Ex 2) und quellenhaft (ab Ex 6) ist ohne Frage innovativ und löst zudem auf elegante Weise das immer wieder gesehene Problem, dass in P eine Einführung des Mose fehlt. Dennoch wird man auch hier in mehrerer Hinsicht Bedenken anmelden müssen. Sieht man einmal ganz von den Problemen ab, die sich mit der Rekonstruktion einer Mosebiographie in Ex 2,1-23aα*; 4,19.20a und mit der Folgeannahme verbinden, ihre ursprüngliche Fortsetzung sei abgebrochen, so ist vor allem zu kritisieren, dass W. eine Unterscheidung von redaktionellen und quellenhaften Partien des priesterlichen Materials im Exodusbuch nicht hinreichend am Text belegt. Den in der Einleitung erhobenen Vorwurf, die bisherige Forschung argumentiere zu sehr von Globalbefunden her, muss sich W. nun selbst gefallen lassen, denn sein Urteil, P sei ab Ex 6,2 als Quelle zu betrachten, gründet letztlich allein im pauschalen Verweis auf die – zweifellos erklärungsbedürftigen – erzählerischen Dubletten im Plagenzyklus und im Meerwunderbericht. Eine Untersuchung der betreffenden Textbereiche findet indes nicht statt, mehr noch: Nicht einmal die priesterlichen ›Fronnotizen‹ innerhalb der von W. ausführlicher thematisierten Anfangskapitel des Exodusbuches (i. e. Ex 1,13–14; 2,23a β–25) werden in die redaktionsgeschichtliche Analyse einbezogen, was insofern erstaunlich ist, als nach verbreiteter Ansicht gerade hier ein durchlaufender priesterlicher Quellenfaden greifbar wird, an den sich Ex 6,2 problemlos anschließen lässt. Damit wird ein Befund unterschlagen, der der These, P sei erst ab Ex 6,2 als Quelle zu betrachten, nicht unbedingt günstig ist. Besagter These widerspricht nun aber auch umgekehrt eine Reihe von Textbefunden im weiteren Verlauf der Exoduserzählung, auf die W. ebenfalls überhaupt nicht eingeht. So ist, um nur zwei Beispiele zu nennen, die priesterliche Passaordnung in Ex 12,1–13* erkennbar auf den nichtpriesterlichen Bericht von der Tötung der Erstgeburt in Ex 12,29–33* hin angelegt und ohne diesen nicht lebensfähig. Ferner ist die priesterliche Sinaiperikope, in der sich nach W. ja das ursprüngliche Ende von P findet (Ex 29,45–46), nur durch das nichtpriesterliche Itinerar in Ex 19,2a kontextualisiert, da sich die Ankunftsnotiz in Ex 19,1 aufgrund der hier verwendeten Monatszählung als spätpriesterlicher Zusatz erweist. Auch im weiteren Verlauf des Exodusbuches begegnen also literarische Befunde, die deutlich an die von W. diskutierte Situation in der Vätergeschichte erinnern. Die pauschale These, P müsse ab Ex 6,2 als Quelle betrachtet werden, kann daher nicht überzeugen.
Den Abschluss des Analyseteils bilden knappe Erwägungen zum historischen Ort der priesterlichen Passagen, die »kurz nach 520 anzusetzen« und im Land, nämlich »in den Reihen [der] ersten Rückkehrer aus dem Exil entstanden« seien (163). Auf der Grund-lage dieser historischen Standortbestimmung wendet sich W. sodann im dritten Kapitel seiner Studie der »Intention der pries-terlichen Passagen der Vätergeschichte« zu. Durch eine Vielzahl de­taillierter Textbeobachtungen und die konsequente Berücksichtigung des nicht-priesterlichen Kontextes entwickelt W. eine profilierte Interpretation der betreffenden Texte, die manchen bislang vernachlässigten Aspekt mit neuer Klarheit zur Geltung bringt. Die priesterliche Vätergeschichte hebe betont darauf ab, so W., dass sich die Konstituierung des Volkes im Ausland vollzogen habe, und legitimiere damit die Auffassung der zu den Rückkehrern zählenden Verfasserkreise, sie repräsentierten das wahre Israel. Das Beispiel der Väter, denen das Land von Gott immer wieder aufs Neue übereignet wird, begründe die Hoffnung auf die nachexilische Restitution, wobei sich die Verfasser in sehr unterschiedlicher Weise zu den Gruppen positioniert hätten, mit denen sie sich nach ihrer Rückkehr konfrontiert sahen. Während die umgebenden Völker als Verwandte wahrgenommen würden, die sogar am göttlichen Segen partizipieren, richte sich eine deutliche Polemik gegen die während des Exils im Land verbliebenen Volksgenossen, die als Kanaanäer stigmatisiert werden. Trotz dieser scharfen Abgrenzung werde jedoch keine Gewalt, sondern eine friedliche Koexistenz propagiert (225–226).
Aller Kritik in Detailfragen ungeachtet kann man W. nur be­scheinigen, mit seiner Studie einen wertvollen Beitrag zur Erhellung von Entstehung und Intention der priesterlichen Passagen der Vätergeschichte geliefert zu haben, der auch neue Impulse in der Pentateuchdebatte setzt. Die künftige Forschung wird gut beraten sein, sich offen mit seinen Ergebnissen auseinanderzu-setzen.