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Ausgabe:

Mai/2014

Spalte:

566-569

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Gerhards, Meik

Titel/Untertitel:

Das Hohelied. Studien zu seiner literarischen Gestalt und theologischen Bedeutung.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2010. 577 S. = Arbeiten zur Bibel und ihrer Ge­schichte, 35. Geb. EUR 78,00. ISBN 978-3-374-02794-1.

Rezensent:

Ludger Schwienhorst-Schönberger

Von der an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Rostock als Habilitationsschrift angenommenen Monographie darf ohne Übertreibung gesagt werden, dass mit ihr ein Paradigmenwechsel in der Exegese des Hoheliedes eingeleitet wird. Meik Gerhards versucht den Nachweis zu führen, dass das Hohelied bereits von seiner ursprünglichen Autorenintention her als eine religiös-allegorische Dichtung zu verstehen sei. Mit dieser These wird der exegetische Konsens, der sich mit den Hoheliedstudien von Johann Gottfried Herder aus dem Jahre 1778 seit dem 19. Jh. durchgesetzt hat und der in den zurückliegenden Jahrzehnten als unhintergehbar angesehen wurde, aufgekündigt.
Otto Kaiser hat in der »Einleitung in das Alte Testament« (5. Aufl. 1984) verlauten lassen, dass das gänzliche Verschwinden der allegorischen Interpretation »nur noch eine Frage der Zeit sein« dürfte, »sofern die Klarheit des historischen Bewusstseins nicht erlischt« (361). Othmar Keel spricht in seinem breit rezipierten und mehrfach übersetzten Kommentar von einer dem Hohelied »in der Allegorese totalitär verordnete[n] theologische[n] Persönlichkeitsveränderung« und sieht in der Allegorisierung »nichts als eine elegant gestaltete Verachtung des Textes« (Das Hohelied, ZBK.AT 18, Zürich 1986, 2. Aufl. 1992, 41.40). Hans-Peter Müller meint, dass sich die »natürliche Deutung« der »Sammlung profaner Liebeslieder« »nicht zuletzt dank des reformatorischen Schriftverständnisses […] soweit durchgesetzt« habe, »dass es ihrer Rechtfertigung nicht mehr bedarf« (Das Hohelied, ATD 16/2, Göttingen 4. Aufl. 1992, 8). Nach Oswald Loretz ist die allegorisch-typologische Auslegung des Hoheliedes »ein Tribut christlichen Denkens an die Zeitumstände vergangener Jahrhunderte« (Die theologische Bedeutung des Ho­henliedes, BZ NF 10, 1966, 42). G. kehrt nun den Spieß um und fragt, ob nicht auch das sogenannte »wörtliche Verständnis« des Hoheliedes in ähnlicher Weise als Tribut an den Zeitgeist zu verstehen sei. Im vorletzten Kapitel seiner Arbeit (441–542) geht er ausführlich auf die geistesgeschichtlich bedingten Vorbehalte und Vorurteile gegen die allegorische Deutung ein und beleuchtet die Hintergründe, die zum Bedeutungsverlust allegorischer Interpretation seit dem 18. Jh. geführt haben.
G. geht es jedoch nicht um eine Rehabilitation des allegorischen Verständnisses im Rahmen eines rezeptionsästhetischen Ansatzes, sondern um den mit den klassischen Methoden historischer Kritik geführten Nachweis, dass »das Hohelied auch aus historisch-kritischer Sicht als Allegorie zu verstehen« sei (26). Es spricht viel dafür, dass es »als Erbauungs- und Trostbuch für diejenigen verfasst wurde, die an der Hoffnung festhielten, dass Gott die im Bild der Hochzeit verheißene und erwartete Wiederherstellung Israels doch noch in die Tat umsetzt« (542).
Kurz seien die Schritte seiner Argumentation nachgezeichnet: Zunächst bestätigt G. aufgrund detaillierter philologischer Analysen sowie kultur- und literargeschichtlicher Beobachtungen die in der Forschung weitgehend akzeptierte These, dass das Hohelied eines der jüngsten Bücher des Alten Testaments ist (I: 28–86). Es greift in hohem Maße auf andere »biblische«, bereits als kanonisch anzusehende Texte zurück. Ein ausführlicher Vergleich mit »Liebesdichtungen aus der Umwelt des Alten Testaments« (II: 87–152) bestätigt die Datierung. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang der Hinweis auf die Grabinschrift von Marisa, die ein Liebesgedicht als allegorisch verschlüsseltes Rätsel darstellt. Aus diesen und weiteren Beobachtungen zieht G. die Schlussfolgerung, »dass im hellenis­tischen Palästina allegorische Texte bekannt waren, die ein Bildfeld aktualisieren, in dem der Sinnbezirk des Liebeslebens bzw. der Erotik als bildspendendes Feld wirksam ist« (152).
Mit der Gattungsfrage befasst sich G. im III. Teil der Arbeit (153–198). Er diskutiert die drei klassischen Modelle der Dramen-, der Sammlungs- und der Monologhypothese. Er knüpft an die nur von wenigen rezipierte Monologhypothese an. Auf der Grundlage paradigmatischer Textanalysen plädiert er für die Einheitlichkeit des Werkes (IV: 199–296), versteht es von der Gattung her als »Traumdichtung« (V: 297–321), und zwar näherhin als »Monolog der Frau« (VI: 322–348). Vor dem Hintergrund dieses Verständnisses analysiert er die poetischen Konzepte von Räumen und Personen (VII: 349–361) und fragt nach den »Personen neben den Liebenden« (VIII: 362–379). Er bietet eine gegliederte Übersetzung (X: 386–403) und eine kurze, durchgehende Kommentierung des Buches (XI: 404–440). Als Ergebnis hält er fest: »Es handelt sich, abgesehen von den beiden letzten Versen, durchgehend um einen Monolog der Frau, die vor den Töchtern Jerusalems davon erzählt, wie sie sich gegen den Willen ihrer Brüder auf eine Beziehung zu einem Mann eingelassen hat, mit dem sie sich auch im Geheimen getroffen hat« (437). Das Verständnis als Traumdichtung ermöglicht es, das Hohelied einerseits als »einheitliche Dichtung« zu verstehen, andererseits aber »auf die gezwungene Rekonstruktion einer folgerichtigen Handlung oder eines durchgehenden Gedankenfortschritts« zu verzichten (440).
Geradezu köstlich ist das kleine Kapitel zu den Fragen der Moral (IX: 380–385). Es ist üblich geworden, sich über die ältere Exegese zu erheben, die sich darum bemühte, die erotisch-sexuellen Bilder des Hoheliedes zu »entschärfen«, sei es im Rahmen des geistig-mystischen Verständnisses als Bilder für die Liebe zwischen Gott und seinem Volk oder zwischen Gott und der Seele des Einzelnen, sei es im Rahmen der »bürgerlichen« Exegese des 19. Jh.s als Bilder der keuschen ehelichen Liebe, einem »der höchsten irdischen Güter, die Gott uns geschenkt hat« (Karl Budde). Anhand einiger Beispiele zeigt nun aber G., wie auch das »wörtliche« Verständnis des Hoheliedes in der Gefahr steht, »Moral- und Wertvorstellungen der eigenen Zeit in den Text hineinzulesen« (381). Die Liebe des Hoheliedes ist jetzt nicht mehr auf Dauer angelegt, Nachkommenschaft kommt nicht in den Blick, sie steht in Spannung zu den Ansprüchen der Gesellschaft, hat mit Theologie und Moral nichts zu tun, lässt sich nicht domestizieren und auf ordentliche Braut- und Eheleute einschränken. G. versucht – soweit möglich –, von eigenen Ansichten und Urteilen Abstand zu gewinnen; er versteht sich im Sinne historisch-kritischer Exegese als »Anwalt des Textes« (383).
Im umfangreichen vorletzten Kapitel geht er auf »Historisch-kritische Überlegungen zum Hohelied als einer allegorischen Dichtung« ein (XII: 441–542). Ausführlich diskutiert er die geistesgeschichtlich bedingten Vorbehalte und Vorurteile gegen die allegorische Deutung (442–448). Er relativiert mit guten Argumenten die gemeinhin übliche scharfe Trennung zwischen Allegorie und Allegorese (448–454), diskutiert neuere Interpretationen des Hoheliedes, wie etwa die »massive Kritik an der allegorischen Auslegung durch O. Keel« (464–469), ebenso wie neuere »Ansätze zur Rehabilitierung der religiös-allegorischen Deutung aus historisch-kritischer Sicht« (469–476), wie sie u. a. von David Carr, Klaus Koch, Martti Nissinen und Rüdiger Bartelmus vorgetragen wurden. In einem eigenen Abschnitt untersucht er die für ein ursprünglich nicht-allegorisches Verständnis angeführten Quellen der rabbinischen Literatur und kommt zu dem Ergebnis, dass sie kein Beleg dafür seien, dass dem Hohelied »die allegorische Deutung nachträglich von den Rabbinen aufoktroyiert wurde« (487). Es gibt also, worauf bereits Martti Nissinen hingewiesen hat, keinen eindeutigen Beleg für ein ursprünglich nicht-allegorisches Verständnis des Hohe-liedes.
In einem weiteren Abschnitt (487–512) geht er auf die Verbreitung allegorischer Texte innerhalb des Alten Testaments ein, vor allem auf Hos 1–3; 14,5–9; Jes 54,4–8; 61,10 f.; 62,1–12; Ps 45. Sein Fazit: »In einer Reihe von prophetischen Texten wird also die Wiederherstellung Israels nach Exil und Fremdherrschaft in das Bild einer Hochzeit gefasst, wobei es jeweils eindeutig um das Verhältnis zwischen Jahwe und Israel bzw. Jahwe und Jerusalem geht. Diese Texte aktualisieren also ein Bildfeld, das einen Spezialfall der altorientalischen göttlich-menschlichen Geschlechtsmetapher darstellt. In dem speziellen Feld ist der Sinnbezirk Erneuerung des Gottesverhältnisses, dem die Wiederherstellung Israels entspricht, mit dem Sinnbezirk Hochzeit verbunden, wobei letzterer als bildspendend wirkt« (503). In einem weiteren Abschnitt bringt G. eine Reihe an »Hinweise[n] auf eine allegorische Bedeutung aus dem Hohelied selbst« (512–530).
Als Ergebnis hält G. fest: »1) Die verbreitete Abwehr der allegorischen Deutung tritt zwar üblicherweise mit dem Anspruch auf, die historische Kritik lasse in dieser Frage keine andere Wahl mehr zu. Tatsächlich dürfte sie aber mit einem in der Ästhetik Herders und der deutschen Klassik begründeten Vorbehalt gegenüber allegorischer Dichtung zusammenhängen und darüber hinaus von den Vorurteilen mitbestimmt sein, dass ein allegorisches Verständnis rein willkürlich sei und auf die Sublimierung bzw. Entschärfung des erotischen Charakters des Textes ziele. 2) Die religiös-allegorische Deutung ist gegenüber alternativen Vorschlägen im Vorteil, weil allein in ihrem Fall durch die Wirkungsgeschichte belegt ist, dass es sich um ein schon in der Antike vertretenes Verständnis handelt, während die alternativen Vorschläge nur als Konstruktionen der neuzeitlichen Exegese belegt sind.« (531) – Unter Berücksichtigung dieser und weiterer Gesichtspunkte (vgl. die Punkte 3 bis 5 auf S. 531) »kann die Annahme, das Hohelied sei vom Autor als religiöse Allegorie verfasst worden, sogar als die aus historisch-kritischer Sicht am besten begründete Hypothese zum Grundverständnis der Dichtung gelten« (532). Was im Laufe der Auslegungsgeschichte die allegorische Auslegung vor allem in Misskredit gebracht hat, war der häufig unternommene Versuch, jedem einzelnen Element des Textes einen allegorischen Sinn abzugewinnen. Das führte zu Deutungen, die aus dem kulturellen Umfeld, in dem das Hohelied entstanden ist, nicht mehr nachzuvollziehen sind. Diese – rezeptionsästhetisch verständliche, produktionsästhetisch aber nicht mehr verifizierbare – Überstrapazierung der allegorischen Deutung ändert aber nichts an der exegetisch gut begründeten These, »das Hohelied als religiös-allegorische Dichtung der Seleukidenzeit zu verstehen« (538).
Angesichts des philologisch anspruchsvollen Textes lässt sich über einzelne Auslegungen immer streiten. Generell formuliert G. ausgewogen und vorsichtig. Das Einzige, was mich bei der Ausrichtung der Arbeit gewundert hat, ist, dass er die Publikationen aus dem Umkreis des französischen Exegeten André Robert (A. Robert/R. Tournay/A. Feuillet, Le Cantique des Cantiques. Traduction et Commentaire, Paris 1963; eine Kurzfassung bietet: Le Cantique des Cantiques, traduit par A. Robert, Paris 1958) – wenn ich recht sehe – nicht kennt, während er ansonsten mit der Forschungsgeschichte bestens vertraut ist.
Die Gruppe um André Robert (1883–1955), Professor am Institut Catholique in Paris, hat mit streng historisch-kritischen Mitteln die allegorische Deutung des Hoheliedes verteidigt. Letztlich konnte sie sich aber – zumindest in der deutschsprachigen Exegese – nicht durchsetzen. Interessant ist allerdings, dass die Arbeit eines seiner Schüler, André Feuillet, »Comment lire le Cantique des Cantiques. Étude de théologie biblique et réflexions sur une méthode d’exégèse« aus dem Jahre 1953 in einer Neuauflage 1999 erschienen ist. Die Arbeit zeigt mit streng exegetischen Methoden, dass das Hohelied von seinem Ursprung her als religiöse Dichtung zu verstehen ist und dass sowohl die jüdische als auch die christliche Tradition diese Idee im Grunde richtig erfasst haben. G. scheint unabhängig von diesen Arbeiten zu einem ähnlichen Ergebnis gekommen zu sein. Offensichtlich gibt es hier einen Mentalitätswechsel, der auch in ökumenischer Hinsicht von Interesse ist. Er dürfte nicht zuletzt mit einer Erweiterung des exegetischen Methodenrepertoires und einem selbstkritischen Blick auf eingefahrene Selbstverständlichkeiten der modernen Exegese zusammenhängen.
Ich halte die Arbeit von G. für eine der interessantesten und anregendsten Arbeiten, die in den letzten Jahren zum Hohelied erschienen sind. Sie bringt einen exegetischen Konsens ins Wanken und ist in diesem Sinne kritisch im besten Sinne des Wortes. Exegetische Kompetenz, geistesgeschichtliche Bildung, Kenntnis der Forschungs- und Auslegungsgeschichte und der Mut, sich am exegetischen Mainstream abzuarbeiten, gehen eine fruchtbare Verbindung ein und machen die Lektüre des Buches zu einem Vergnügen.